Ein Abend der kontrastreichen Meisterschaft
Cornelius Meister dirigiert Tschaikowsky

Cornelius Meister  | Foto: © Sebastian Mare
  • Cornelius Meister
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In der modernen Atmosphäre der Stuttgarter Liederhalle erlebte ich eine Aufführung von Peter Tschaikowskys Erster Symphonie, die in mir eine Symphonie der Gefühle und Gedanken hervorrief, orchestriert von der genialen Hand Cornelius Meisters.

Der erste Satz, Allegro tranquillo, eröffnete sich mir wie ein delikates Mosaik aus feinsten Klängen und subtilen Nuancen. Unter Meisters akribischer Leitung verschmolzen die Töne zu einer poetischen Erzählung, die meine Seele in ihren Bann zog. Jede Phrase, jede Wendung war wie ein feiner Pinselstrich auf einer Leinwand aus Klang, der die tiefen melancholischen Unterströmungen der Musik offenbarte und mich in eine Welt der inneren Spannung und Ruhe zugleich versetzte. Es war, als ob ich durch ein kunstvoll gestaltetes Labyrinth wandelte, dessen Schönheit und Komplexität sich mir in jedem Moment neu enthüllte.

Im zweiten Satz, Adagio cantabile ma non tanto, wurde ich Zeuge der solistischen Brillanz des Staatsorchesters Stuttgart. Die Bläser, insbesondere die Hörner, erfüllten den Raum mit einer Klangfülle, die tief in meine Seele eindrang. Die Wiederholung des Hauptthemas, kraftvoll und akzentuiert, rief in mir eine Resonanz hervor, die weit über das Hörbare hinausging. Die russische Seele, eingefangen in diesen Tönen, schien mit mir zu sprechen, mich zu umarmen und in ihre tiefen, emotionalen Abgründe mitzunehmen. Es war ein Moment, in dem die Musik zu einem lebendigen Dialog wurde, der mich unvermittelt in das Herz der russischen Tradition und Tschaikowskys emotionaler Welt führte.

Der dritte Satz, Scherzo: Allegro scherzando giocoso, entfaltete vor meinen Augen und Ohren eine tänzerische Dynamik, die mich in ihren Bann zog. Die Musik schien sich in ständigem Wandel zu befinden, wie ein lebendiger Organismus, der sich in immer neuen Formen und Bewegungen manifestierte. Ich spürte die Leichtigkeit und die spielerische Eleganz, mit der das Orchester diese Passage darbot, und fühlte mich selbst in einen tänzerischen Dialog mit der Musik verwickelt, in dem jede Note eine neue Facette des Lebens und der Freude offenbarte.

Im finalen Satz, Finale: Andante lugubre – Allegro maestoso, erlebte ich eine emotionale Intensität, die den gesamten Saal durchdrang. Meisters leidenschaftliche und präzise Leitung entfachte eine dramatische Kraft, die mich tief in meinem Innersten berührte. Die Musik, durchdrungen von heroischer Größe und tragischer Tiefe, ließ mich die gesamte Bandbreite menschlicher Emotionen durchleben. Es war, als ob die Klänge selbst zu einem gewaltigen Strom wurden, der mich mitriss und in eine Katharsis führte, die mich erschüttert und zugleich erhaben zurückließ.

Nach der tiefen, beinahe transzendenten Erfahrung von Tschaikowskys Erster Sinfonie, wandte sich das Programm der Fünften Sinfonie des russischen Meisters zu. Die Kontraste zwischen den beiden Darbietungen hätten nicht deutlicher ausfallen können, was mir eine faszinierende, aber auch zwiespältige Reise durch die musikalische Landschaft bot.

Der erste Satz der Fünften Sinfonie begann mit einem Klarinettenduett, dessen Intensität und Ausdruckskraft mich sofort in ihren Bann zogen. Es war, als ob die Klarinetten das emotionale Zentrum der Musik freilegten und ihre Seelen in den Raum ergossen. Die Interpretation dieses Satzes war von einer bemerkenswerten Differenziertheit geprägt, die sich in einem weit gefächerten dynamischen Spektrum und der perfekten Mischung aus Pathos und Dramatik zeigte. Cornelius Meister führte das Orchester mit einer sensiblen Hand, die die feinen Schattierungen der Musik mit großer Sorgfalt und Präzision hervorbrachte. Hier schien jeder Ton, jede Phrase auf einer tieferen Ebene zu resonieren, und ich fühlte mich tief verbunden mit der emotionalen Welt Tschaikowskys.

Doch ab dem zweiten Satz begann die Interpretation für mich an Faszination zu verlieren. Das Hornsolo, das zu Beginn eine intime und berührende Stimmung erzeugte, schien im weiteren Verlauf durch Meisters Bemühungen, zu viel aus der Partitur herauszuholen, an Wirkung einzubüßen. Seine Versuche, eine übermäßige Tiefe und Komplexität in die Musik zu legen, führten dazu, dass die Spannung des Werkes immer wieder brach. Die übermäßig herausgearbeiteten Tempiwechsel störten den natürlichen Fluss der Musik, wodurch die Übergänge verpatzt wirkten. Diese „Verpatzung“ bezieht sich keineswegs auf die technische Umsetzung, die makellos war, sondern auf die interpretatorischen Entscheidungen, die den inneren Zusammenhalt der Sinfonie zersetzten und Tschaikowskys Werk seines natürlichen Charakters beraubten.

Im dritten und vierten Satz setzte sich dieser Eindruck fort. Die technische Brillanz des Orchesters war unbestreitbar, doch die emotionale Überladung und die zu starken Kontraste führten dazu, dass die Musik ihren organischen Fluss verlor. Die dramatischen Höhepunkte, die so eindrucksvoll hätten sein können, wirkten gezwungen und überinszeniert, was die authentische Kraft und die lyrische Schönheit der Sinfonie beeinträchtigte.

Am Ende des Vormittags erntete das Orchester dennoch stürmischen Applaus, ein Echo der Begeisterung, die der erste Teil des Konzerts zweifellos verdient hatte. Doch während ich mich beim ersten Teil des Abends voller Euphorie den Ovationen anschloss, konnte ich diese Begeisterung nach der Fünften Sinfonie nicht uneingeschränkt teilen. Die Darbietung war ein faszinierendes Beispiel für die Herausforderungen und Risiken, die mit der Interpretation großer Meisterwerke einhergehen. Cornelius Meister und das Staatsorchester Stuttgart haben zweifellos ihr technisches Können und ihre musikalische Vision unter Beweis gestellt, doch manchmal kann der Versuch, zu viel aus einer Partitur herauszuholen, die natürliche Schönheit und innere Spannung eines Werkes untergraben.

So verließ ich die Liederhalle mit gemischten Gefühlen: beeindruckt von der überwältigenden ersten Hälfte des Konzerts, aber nachdenklich und etwas ernüchtert durch die überambitionierte Interpretation der Fünften Sinfonie. Dennoch bleibt die Erinnerung an die erste Sinfonie als ein leuchtendes Beispiel dafür, wie tief und vielschichtig Musik erlebt werden kann, wenn sie von einem Dirigenten und einem Orchester dargeboten wird, die in der Lage sind, die verborgenen Tiefen und die flüchtigen Schönheiten eines Werkes zu enthüllen.

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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