Die zyklischen Tücken der Vergänglichkeit
Currentzis im Festspielhaus Baden Baden
An diesem Abend dirigierte Teodor Currentzis erneut das Utopia-Orchester; das Podium war wieder sehr voll besetzt, ebenso wie das Festspielhaus Baden-Baden selbst. Auf dem Programm stand Bruckners Neunte Sinfonie. Vorab möchte ich hervorheben, dass das technische Niveau von absoluter Weltklasse war, das Orchester zeichnet sich durch eine derart herausragende Qualität aus, dass es wirklich nichts zu bemängeln gibt—man fühlte sich wie im musikalischen Olymp. Weitaus wichtiger ist jedoch die Art und Weise der Interpretation, und genau diese möchte ich im folgenden Text etwas abstrakter beleuchten.
Das erste Bild, das unweigerlich im Geiste emporsteigt, ist das eines unendlichen Ozeans: Der Dirigent selbst gleicht einem Schwimmer, doch nicht einem gewöhnlichen Schwimmer, denn ein solcher vermag es nicht, das Meer, in dem er sich bewegt, zu formen. Currentzis jedoch modellierte heute das klangliche Meer selbst. Er formte es nicht nur oberflächlich mit seichten, flüchtigen Wellen, wie es zu Beginn anmutete, sondern erschuf Wellen von solcher Intensität und Tiefe, dass sie die Welt zu verschlingen schienen—bombastische Wogen von nahezu transzendenter Natur, erfüllt von dynamischen Kontrasten und harmonischem Reichtum. Und dann, in einem Moment unerwarteter Wendung, kreierte er erneut ein Paradies: so leicht schwebende Töne, die das Herz sanft berühren, ein Fluss aus Melodien, der direkt in das Innerste der Seele strömt und die tiefsten Emotionen zum Klingen bringt. Zarte Klänge, fast ein Hauch von Nichts, doch majestätisch in ihrer reinsten Essenz, getragen von subtilen Nuancen und feinsten orchestralen Schattierungen. Dann wieder, sich majestätisch aufbauend, in ihrer Intensität steigernd, episch in ihrer Ausdehnung und eindringlich in ihrer emotionalen Wirkung, entfalten sich die Klänge zu einem monumentalen Klanggebilde. Es war wie die Ebbe und Flut der tiefsten menschlichen Empfindungen, der ewige Kreislauf von Schöpfung und Vergehen, eingefangen in einer musikalischen Darbietung von seltener Tiefe und Schönheit. Eine Musik, die so tief ins Mark dringt, dass sie die Grundfesten des Seins erschüttert; das Fortissimo dieses Abends umhüllte einen vollständig.
Im zweiten Satz entfesselte sich ein musikalischer Sturm von überwältigender Intensität, der einem den Wind förmlich um die Ohren peitschte und die Sinne in Aufruhr versetzte. Man verspürte eine beinahe greifbare Spannung, dass, sollten die Streicher ihre Bögen nur noch ein wenig kraftvoller auf die Saiten drücken, die Instrumente unter der enormen Anspannung zu Bruch gehen könnten, zerrissen von den unbändigen klanglichen Energien, die den Raum erfüllten. Der Orkan, den die Blechbläser entfachten, durchdrang nicht nur den Saal, sondern schien die gesamte Welt in seinen Bann zu ziehen, jeden Winkel des Daseins zu erfassen und in Schwingung zu versetzen. Die kraftvollen Harmonien und die majestätischen Töne erzeugten eine Atmosphäre von erhabener Größe, nur um sich dann, in einer überraschenden Wendung, plötzlich zu beruhigen und in einen filigranen Tanz der Gefühle überzugehen. Die musikalische Wucht transformierte sich in eine zarte, fast ätherische Melodie, die die Seele sanft streichelte und die Emotionen in harmonische Schwingungen versetzte. Es war ein Wechselspiel von Dynamik und Ruhe, von Spannung und Entspannung, das die Zuhörer in eine Achterbahn der Gefühle versetzte und die Grenzen zwischen Realität und musikalischer Illusion verschwimmen ließ.
Currentzis verwebte in dieser einzigartigen Interpretation die gesamte Ambivalenz unserer Zeit. Er dekonstruierte die traditionellen Konzepte von Richtig und Falsch auf einer musikalischen Ebene, zerlegte sie in ihre Bestandteile und setzte sie neu zusammen, um dem Zuhörer eine frische Perspektive zu bieten. Es war ein Ansatz, der die Grenzen der konventionellen musikalischen Ästhetik erweiterte und den Zuhörer dazu einlud, die eigene Wahrnehmung von Ordnung und Chaos, Harmonie und Spannung neu zu definieren und zu hinterfragen.
Der dritte Satz entfaltete sich mit der Wucht eines gewaltigen Erdbebens, das einem förmlich den Boden unter den Füßen entriss; die Urgewalt und unbändige Kraft der Erde manifestierte sich in jeder Note. Die majestätischen Akkorde des gesamten Orchesters erzeugten eine Atmosphäre von erhabener Intensität. Und dann, in einem abrupten und unerwarteten Wandel, verschwand diese titanische Macht, und etwas äußerst Seltsames ereignete sich. Man schwebte plötzlich schwerelos in der Luft, frei von den Gesetzen der Schwerkraft, fiel nicht, sondern existierte in einem zeitlosen Moment der Kontemplation, entrückt von der physischen Realität. Langsam und behutsam wurde man zu einem neuen Fundament geleitet, einem Boden, dessen Natur ungewiss war—war es ein paradiesischer Ort der Erlösung oder ein unbekanntes Terrain voller Rätsel? Die sich wiederholenden Motive und harmonischen Sequenzen in der Musik erinnerten an die zyklischen Tücken der Vergänglichkeit, an die unaufhaltsame Wiederkehr von Anfang und Ende, von Schöpfung und Vergehen. Am Ende bebte es erneut, doch diesmal war es kein äußeres Ereignis, sondern ein inneres Beben, das tief im Herzen resonierte und die Seele in ihren Grundfesten erschütterte. Es war eine musikalische Metapher für die Dualität des Daseins, eine Reise durch die Abgründe und Höhen menschlicher Existenz, die den Zuhörer zutiefst bewegte und verändert zurückließ.
In der zweiten Hälfte des dritten Satzes entfachte sich ein inneres Feuer, das Herz brannte förmlich vor Emotionen. Es leuchtete mit einer Intensität, die zugleich sanft und durchdringend war, wie ein Licht, das die Dunkelheit erhellt, getragen von sanften Melodien und harmonischen Progressionen, die die Seele berührten. Und obwohl die Sinfonie unvollendet blieb, wirkte das Ende dennoch versöhnlich, so als hätte es einen endgültigen Abschluss gefunden, einen musikalischen Punkt, der die vorhergehende Reise abrundete. Es vermittelte das Gefühl, dass es genau so sein sollte, dass nichts Weiteres benötigt wurde, um die innere Logik und Ästhetik des Werkes zu vollenden. Dass am Ende keine Zugabe folgte, unterstrich dies auf fundamentale Weise; es war ein bewusster Verzicht, der die Wirkung der Musik verstärkte und dem Zuhörer Raum ließ, die erlebten Eindrücke nachklingen zu lassen. Die Stille nach dem letzten Ton wurde so zum integralen Bestandteil der Sinfonie, ein stilles Echo.
Es hinterlässt die Gewissheit, dass Musik in der Lage ist, uns zu bewegen, zu verwandeln und uns mit etwas Größerem zu verbinden. Ein Abend, der noch lange nachklingen wird und der die Essenz dessen einfing, was Kunst imstande ist zu bewirken.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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