Exzellenz und Einsamkeit
Die konzertante ‘Iphigénie en Tauride’ im Festspielhaus Baden Baden
Die folgende Kritik gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Teil schildere ich die Aufführung und meine persönlichen Eindrücke von der musikalischen Darbietung, den Künstlern und der einzigartigen Atmosphäre dieses Abends. Im zweiten Teil folgt eine vertiefte Auseinandersetzung mit der überraschend geringen Publikumsresonanz, den möglichen Gründen dafür und den Gedanken, die dieses Phänomen in mir ausgelöst hat.
Die konzertante Aufführung von Christoph Willibald Glucks Oper Iphigénie en Tauride im Festspielhaus Baden-Baden begann sanft, beinahe zart, doch diese Ruhe war nicht von langer Dauer. Plötzlich brach ein musikalischer Sturm herein, spürbar und allumfassend, der mich vollständig umhüllte und in seinen Bann zog. Das Orchester, unter der meisterhaften Leitung von Thomas Hengelbrock, entfachte ein klangliches Unwetter, das die Elemente förmlich heraufbeschwor. Der Balthasar-Neumann-Chor ergänzte dieses Spektakel mit kristallklaren und kraftvollen Stimmen, harmonisch verwoben mit dem stürmischen Orchesterklang.
Ich spürte die Magie eines Werkes, das ich an diesem Abend zum ersten Mal hörte. Für mich birgt jedes Konzert etwas Magisches, insbesondere wenn ich die Gelegenheit habe, ein neues Stück zu erleben. In der heutigen Zeit meide ich es sogar bewusst, aktiv nach Neuem auf Streaming-Plattformen wie Spotify, Apple Music und Co. zu suchen, um mir dieses wunderbare Erlebnis des ersten unvoreingenommenen Hörens zu bewahren. Es ist, als ob man ein kostbares Geschenk erhält, dessen Inhalt man erst beim Auspacken entdeckt.
Tara Erraught als Iphigenie beeindruckte mich zutiefst. Die Sopranistin des Abends präsentierte eine unglaublich kraftvolle und emotionale Stimme, kristallklar und zugleich wunderbar geschmeidig – eine scheinbare Antithese, die in ihrem Vortrag jedoch perfekt harmonierte. Ihre Stimme war äußerst detailreich und facettenreich, und die emotionale Führung war schlicht überwältigend. Sie verkörperte die innere Zerrissenheit und die Tragik der Iphigenie mit einer Intensität, die tief berührte und unter die Haut ging. Jede Phrase, jede Nuance war durchdacht und mit großer musikalischer Intelligenz interpretiert.
Armando Noguera verkörperte Thoas, den König der Taurianer, mit mächtiger stimmlicher Präsenz. Seine Stimme war klar, volltönend und wunderschön timbriert, sehr präzise und dennoch von einer leidenschaftlichen Inbrunst durchdrungen. Seine Bühnenpräsenz war beeindruckend, und das alles trotz der konzertanten Aufführung, die ja eigentlich auf szenische Darstellung verzichtet. Er schaffte es jedoch, durch seine intensive Interpretation den Charakter des Thoas lebendig werden zu lassen. Seine Arien waren kraftvolle Statements, die die Wildheit des Königs spürbar machten.
Neben diesen Glanzleistungen stachen auch die wunderbaren solistischen Einsätze aus dem Chor heraus. Solistinnen und Solisten wie Ella Marshall Smith als Erste Priesterin und Karin Gyllenhammar als Zweite Priesterin fügten der Aufführung zusätzliche klangliche Farben hinzu und rundeten das musikalische Erlebnis auf besondere Weise ab.
Thomas Hengelbrock führte nicht nur den Chor, sondern auch das Orchester mit liebevoller Detailversessenheit und unglaublicher Präzision. Er schien jede Phrase, jeden Einsatz mit besonderer Hingabe zu gestalten. Das Balthasar-Neumann-Orchester brillierte mit sagenhafter Qualität. Die historischen Instrumente erzeugten einen warmen, transparenten Klang, der Glucks Musik eine besondere Authentizität verlieh. Dieses Stück zum ersten Mal in einer derart hervorragenden Interpretation zu hören, empfand ich als puren Luxus. Es war, als ob man in eine andere Zeit versetzt wurde, in der die Musik noch unmittelbarer klang.
Als Paolo Fanale als Pylades die Bühne betrat, musste er sich zunächst räuspern. Für einen Moment befürchtete ich Schlimmes – eine angeschlagene Stimme vielleicht? Doch diese Sorge erwies sich als unbegründet. Seine Stimme war sanft, weich und zart, von lyrischer Schönheit geprägt. Seine Stimmführung offenbarte eine wunderbare Eleganz, die den Charakter des Pylades ideal widerspiegelte. Seine Arien waren Momente der Innigkeit und Freundschaft, die in starkem Kontrast zur dramatischen Handlung standen.
Dann trat Domen Križaj als Orest auf, und für mich war er der große Star des Abends. Sein dunkles Timbre verlieh seiner Stimme eine vermeintliche Rauheit, doch bei genauerem Hinhören offenbarte sich eine einzigartige Emotionalität. Seine kontrollierte Expressivität wirkte auf den ersten Eindruck vielleicht nicht perfekt, doch gerade diese war weit mehr als Perfekt und machte seine Darbietung so authentisch und berührend. Er verkörperte den innerlich zerrissenen Orest mit einer Intensität, die mich tief bewegte. Seine Arie, in der er von seinen Qualen und seinem Schicksal singt, war ein Höhepunkt des Abends. Im Duett mit Fanale erfüllte sich ein akustischer Traum, der mich nachhaltig beeindruckte und mir eine Gänsehaut bescherte.
Gwendoline Blondeel als Diana fügte mit ihrer stimmlichen Brillanz ein weiteres Highlight hinzu. Obwohl ihre Rolle kürzer war, hinterließ sie einen bleibenden Eindruck. Ihre klare Sopranstimme verlieh der Göttin des Mondes, der Jagd und der Keuschheit eine erhabene Aura. Sie schien förmlich über den Dingen zu schweben und brachte mit ihrem Auftritt einen Hauch von Transzendenz in die Aufführung.
Der Abend verging wie im Flug. Gluck verstand es meisterhaft, dass man nicht in epischer Länge verweilen muss, um große Dramatik zu erzeugen. Seine kompositorische Dramaturgie war anders als das, was ich aus diesem Genre gewohnt bin. Die Musik war kurzweilig, doch stets spannend und fesselnd. Interessanterweise war die Geschichte viel dramatischer als die Musik selbst. Man könnte sagen: dramatisch im Inhalt, sanft in der musikalischen Umsetzung und Rezeption.
Dieser Abend bewies für mich erneut, wie großartig konzertante Aufführungen sind. Sie ermöglichen es, sich ganz auf die Musik und die Stimmen zu konzentrieren, ohne durch szenische Ablenkungen beeinflusst zu werden. Man kann die Augen schließen und sich ganz in den Klangwelten verlieren, die von den Musikern und Sängern geschaffen werden. Es ist eine puristische Form des Musikgenusses, die in unserer visuell überfrachteten Zeit einen besonderen Reiz ausübt.
Doch als ich meinen Blick durch den Saal schweifen ließ, offenbarte sich mir ein ernüchterndes Bild. Der erste und zweite Balkon des Festspielhauses waren geschlossen – ein stilles Zeugnis für die vielen unbesetzten Plätze. Auch das Parkett und das Parterre waren nicht vollständig gefüllt, was die imposante Größe des Raumes noch eindringlicher spürbar machte. Bereits beim Applaus wurde es deutlich – er klang verhältnismäßig gedämpft und zurückhaltend. Es ist betrüblich, dass dieser prächtige Konzertsaal, der bis zu 2.500 Menschen zu fassen vermag, nicht einmal annähernd ausgelastet war.
Ich frage mich: Haben wir es verlernt, das Neue und Unbekannte zu schätzen? Wo ist unsere einstige Neugier geblieben? Sind wir derart in den Komfort des Vertrauten eingebettet, dass wir uns nicht mehr auf Entdeckungsreisen begeben? In einer Welt, die uns unablässig mit Reizen überflutet, scheint die Fähigkeit, die leisen Töne wahrzunehmen, allmählich zu verkümmern. Möglicherweise fehlt es uns an Bereitschaft, uns auf Erfahrungen einzulassen, die nicht sofort zugänglich oder leicht konsumierbar sind. Haben wir aufgehört, uns von Kunst berühren zu lassen, die jenseits des Gewohnten liegt?
Vielleicht hat die rasante Beschleunigung unseres Alltags dazu geführt, dass wir den Moment des Innehaltens und der Reflexion immer seltener finden. Die ständige Verfügbarkeit von Unterhaltung und Information könnte dazu beitragen, dass wir uns eher dem Oberflächlichen zuwenden, anstatt die Tiefe und Komplexität anspruchsvoller Kunst zu erkunden. Es mag auch sein, dass ökonomische Zwänge und gesellschaftliche Veränderungen kulturelle Erlebnisse in den Hintergrund drängen. Doch ist es nicht gerade in Zeiten des Wandels essentiell, sich auf die beständigen Werte der Kultur zu besinnen?
Die Kunst bietet uns die Möglichkeit, über uns selbst und die Welt nachzudenken, Verbindungen zu knüpfen und Empathie zu entwickeln. Indem wir uns von ihr abwenden, berauben wir uns eines wichtigen Teils unserer Menschlichkeit. Vielleicht sollten wir uns fragen, ob die Bequemlichkeit des Vertrauten den Verlust der Bereicherung rechtfertigt, den das Unbekannte uns bieten kann.
Jeder Einzelne, der an diesem Abend dabei war, hat ein kostbares Geschenk mit nach Hause genommen – eine unauslöschliche Erinnerung an eine makellose und tief bewegende Aufführung. Es war ein exklusives Konzert, ein intimes Erlebnis trotz der monumentalen Dimensionen des Saales. Für mich persönlich bleibt dieser Abend unvergesslich, eine bedeutende Bereicherung meiner musikalischen Erfahrungen, die ich nicht missen möchte.
Ich wünsche mir von Herzen, dass solche Aufführungen in Zukunft mehr Beachtung finden und dass mehr Menschen die Gelegenheit ergreifen, solche musikalischen Schätze zu entdecken. Es wäre wünschenswert, wenn wir uns wieder verstärkt öffnen könnten für das Neue, das Inspirierende, das uns berührt und zum Nachdenken anregt. In einer Zeit, die oft von Schnelllebigkeit und Oberflächlichkeit geprägt ist, bietet uns die Auseinandersetzung mit anspruchsvoller Kunst die Gelegenheit, innezuhalten, zu reflektieren und unseren geistigen Horizont zu erweitern.
Es liegt an uns, unser kulturelles Erbe zu bewahren und zu fördern. Die Wertschätzung der Künste spiegelt nicht nur den Zustand unserer Gesellschaft wider, sondern bereichert auch unser individuelles Leben. Lassen wir nicht zu, dass Meisterwerke wie Glucks Iphigénie en Tauride in Vergessenheit geraten oder nur einem kleinen Kreis von Eingeweihten zugänglich bleiben. Öffnen wir unsere Sinne und unseren Geist für das Unbekannte, das uns inspiriert, herausfordert und erfüllt.
Vielleicht sollten wir uns fragen, welche Rolle die Kunst in unserem Leben spielen soll. Ist sie bloß Unterhaltung, ein flüchtiger Zeitvertreib, oder kann sie nicht vielmehr ein Medium sein, das uns hilft, tiefer zu denken, intensiver zu fühlen und uns mit anderen Menschen und Kulturen zu verbinden? In einer Welt, die zunehmend fragmentiert und polarisiert erscheint, könnte die gemeinsame Erfahrung von Kunst Brücken schlagen, Verständnis fördern und Empathie stärken.
Es bedarf eines bewussten Entschlusses, sich auf solche Erfahrungen einzulassen, und vielleicht auch des Mutes, das Gewohnte zu verlassen und sich dem Neuen zu öffnen. Doch die Belohnung dafür ist immens: eine Bereicherung, die weit über den Moment hinausreicht und unser Leben nachhaltig beeinflussen kann.
So schließe ich diesen Abend mit dem tiefen Wunsch, dass wir uns wieder mehr auf die Suche nach solchen Erlebnissen begeben, dass wir die Schätze, die uns die Kunst bietet, nicht unbeachtet lassen, sondern sie entdecken und genießen. Denn letztlich sind es diese Momente der Authentizität und Tiefe, die unser Dasein erfüllen und ihm Sinn verleihen.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.