Historischer Klang, zeitlose Vision
Beethovens 9. Sinfonie im Festspielhaus Baden Baden
Das Festspielhaus Baden Baden öffnete an diesem Adventsabend seine Tore für ein Werk von beispiellosem Rang: Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie in d-Moll op. 125, jenes monumentale Opus mit dem visionären Schlusschor nach Schillers „Ode an die Freude“. Doch wer hier ein traditionsverhaftetes, festlich-romantisches Klangbild erwartete, sah sich rasch eines Besseren belehrt. Unter der Leitung von Philippe Herreweghe entfaltete sich im Zusammenwirken des Orchestre des Champs-Élysées und dem Collegium Vocale Gent ein ungewohnt authentischer, historisch inspirierter Klangraum, der die Hörgewohnheiten herausforderte und zugleich bereicherte.
Bevor wir uns sogleich in die Details des Konzerterlebnisses vertiefen, soll an dieser Stelle eine kurze Orientierung erfolgen: Nachfolgend findet sich zunächst eine ausführliche Konzertkritik, in der der Klang, die Interpretation und die Darbietung der 9. Sinfonie Beethovens im Mittelpunkt stehen. Im Anschluss daran, für all jene, die über das Gehörte hinaus weiterdenken und sich gedanklich mit der Botschaft von Schillers „Ode an die Freude“ in unserer heutigen Welt auseinandersetzen möchten, folgt eine erweiterte philosophische Betrachtung. So entsteht eine klare Zweiteilung: Zunächst die klingende Wirklichkeit im Festspielhaus Baden-Baden, dann die weiterführende Reflexion über die zeitlose Idee dieser Musik.
Bereits der erste Satz, das „Allegro ma non troppo, un poco maestoso“, geriet zu einer Begegnung mit einer anderen Epoche: Das Orchester präsentierte sich in reduzierter Streicherbesetzung, die einen zart gefächerten, manchmal beinahe durchscheinenden Klangkörper formte. Die historischen Blasinstrumente – weich tönende Hölzer, sanft getrübte Blechbläser und Schlagwerk, dessen leichte Rauheit durch holzummantelte Schlägel ungezähmter wirkte – bildeten einen farblichen Kontrast zur Klassikmoderne unserer Zeit. Das Ergebnis klang stellenweise wie aus einer fernen Ära herübergeweht: vielleicht nicht immer gestochen scharf, aber von ehrlicher, lebendiger Schönheit, der man sich bei längerem Zuhören nicht entziehen konnte.
Im zweiten Satz, dem „Molto vivace – Presto“, entfaltete dieses historische Instrumentarium seine ganze Virtuosität. Die spröden Schattierungen des Schlagwerks, dessen ungefilterte Härte helle Kontraste setzte, gaben dem rhythmischen Gefüge etwas Erdiges, Elementares. Die Lebendigkeit, das pulsierende Spiel der Streicher und Bläser wirkte wie eine archäologische Freilegung von Beethovens ursprünglich beabsichtigtem Klangbild. Man spürte förmlich die Spannkraft, die in diesem Herangehen lag: Nicht die drängende Größe späterer Orchestertraditionen, sondern eine federnde, elastische Klangrede, die Atem, Pausen, Zäsuren ernst nahm.
Das „Adagio molto e cantabile – Andante moderato“ im dritten Satz geriet zum inneren Höhepunkt. Die Holzbläser, die zu Beginn so rein und beinahe ätherisch ansetzten, öffneten einen Raum von friedvoller Weite. Der Klang schien sich wie ein sanfter Dunst über die Zuhörerschaft zu legen, vermittelte Tiefe, Einkehr und ein Innehalten, das in der Adventszeit wohl kaum passender hätte sein können. Dieser Moment schien eine neue Welt heraufzubeschwören: kontemplativ, still, reich an unausgesprochenen Gedanken.
Der finale Satz, das „Presto – Allegro assai“ mit der berühmten Chorapotheose, begann ungewöhnlich unauffällig – fast als würde das Orchester eine vertraute Geschichte neu erzählen, ohne Pathos und ohne vordergründige Dramatik. Dieser interpretatorische Kniff konnte als Schlichtheit missverstanden werden, eröffnete jedoch den Raum für eine feine, subtile Steigerung, die erst allmählich zu voller Größe fand. Hier traten nun die Solisten ins Rampenlicht: Jarrett Ott (Bariton) eröffnete mit markantem Timbre, doch irritierte ein auffallend schnelles Vibrato, das den wohltönenden Fluss seines Beitrags leicht ins Stolpern brachte. Ilker Arcayürek (Tenor) zeigte eine schön getönte, edle Stimme, jedoch fehlte ihm etwas an Durchsetzungskraft – erstaunlich angesichts der filigranen Orchesterstärke. Der Chor, eher kammermusikalisch besetzt, verblüffte dafür mit unglaublicher Textverständlichkeit und einer akzentuierten, gestochen klaren Artikulation. Das Wort, die Idee der „Freude“, drang damit wie nie zuvor direkt ins Bewusstsein der Zuhörer ein.
Die beiden Damen des Solistenquartetts, Eleanor Lyons (Sopran) und Sophie Harmsen (Mezzosopran), schienen an diesem Abend gewissermaßen die vokale Balance herzustellen. Beide strahlten mit einer souveränen, warm leuchtenden Präsenz, ohne jemals ins Forcierte abzudriften. Gerade im kontrastierenden Zusammenspiel der vier Solisten zeigte sich der interpretatorische Feinschliff, auch wenn die beiden Herren etwas in den Schatten gestellt wirkten.
Philippe Herreweghe am Pult wirkte stets unaufdringlich, gänzlich frei von theatralischem Gestus, aber dennoch bestimmt in der Führung. Es war keine spannungsgeladene, auf äußerste Präzision drängende Interpretation, eher ein dialogisches, auf historische Informiertheit gestütztes Musizieren. Wenn auch hier und da ein klares, straffes Drama fehlte, so lohnte sich das Einlassen auf diese Lesart. Besonders im Finale, als das Vokalquartett sich zu voller Blüte entfaltete, setzte Herreweghe den entscheidenden Moment: Er dehnte, hielt einen Atemzug lang inne, um dann mit geschickter Hand das Ensemble in ein fulminantes, zugleich doch organisches Ende zu führen.
So eröffnete dieser Adventsabend in Baden-Baden nicht bloß einen Blick auf ein bekanntes Meisterwerk, sondern ein Hörerlebnis, das in vielerlei Hinsicht historische Tiefe offenbarte. Man wurde Zeuge einer Aufführung, die durch ihre ursprüngliche Klanglichkeit, die konzentrierte Kammermusikalität des Chores, durch Momente der Irritation ebenso wie durch überraschende Schönheit wirkte. Und so ist die Neunte in diesem historischen Gewand keine selbstverständliche, gar beliebige Angelegenheit, sondern im besten Sinne ein Klangexperiment, ein denk- und hörwürdiges Unterfangen, das Vision und Zuversicht einmal anders, neu und unverbraucht erfahrbar machte.
Für all jene, die nach der vorangegangenen Kritik noch nicht genug haben und sich tiefer in die gedankliche Welt, die hinter Schillers „Ode an die Freude“ und Beethovens Neunter Sinfonie schlummert, hineinbegeben wollen, folgt nun eine etwas ausführlichere Abhandlung, die jene zeitlosen Ideen mit der Gegenwart verknüpft und ihre Bedeutung für das Hier und Jetzt offenlegt.
Anhang: Eine tiefgründige Betrachtung von Schillers „Ode an die Freude“ im Lichte unserer Gegenwart
Wenn wir am Ende eines Konzertes, dessen Herzstück die Neunte Sinfonie Beethovens ist, Schillers berühmte „Ode an die Freude“ vernehmen, dann stellt sich oftmals eine eigentümliche Resonanz ein. Sie ist nicht bloß die emotionale Erhebung durch die Musik selbst, sondern gleichzeitig eine mentale Bewegung, eine Besinnung darauf, was diese Verse einst bedeuten sollten, was sie in ihrem historischen Kontext meinten und was sie uns heute noch zu sagen haben. In einer Zeit, in der viel von Krisen, Konflikten und Zerwürfnissen die Rede ist, in einer Epoche, in der menschliche Gemeinschaften und Gesellschaften sich zunehmend fragmentieren, stellt sich die Frage, ob Schillers Ruf nach Eintracht und Brüderlichkeit noch Gültigkeit besitzt – oder ob er uns nur wie ein fernes Ideal aus vergangenen Utopien erscheint.
In Schillers Worten, in jener emphatischen Feier des Menschlichen, steckt ein tiefer Kern, der über die Jahrhunderte hinweg strahlt: die Idee, dass alle Menschen, egal welcher Herkunft, welchen Glaubens, welcher Sprache oder Hautfarbe, als Brüder (und Schwestern) vereint sein sollten. Diese kühne Vision einer universalen Gemeinschaft gründet in einem Verständnis von Menschlichkeit, das sich gegen alle ideologischen Verengungen richtet und eine höhere Ebene der Verbundenheit postuliert – jenseits von ökonomischen Interessen, jenseits politischer Machtspiele, jenseits von Vorurteilen und Ressentiments.
Heute scheint diese Botschaft, so simpel sie in ihrer Grundstruktur anmutet, überraschend aktuell. In einer globalisierten Welt, in der wir ständig von wirtschaftlichen Abhängigkeiten, digitalen Netzwerken, massiven Wanderungsbewegungen und kulturellen Austauschprozessen sprechen, müssen wir uns fragen: Wo bleibt der innere Zusammenhalt? Wo bleibt jenes Gefühl, das Schiller poetisch anklingen lässt, dass alle Menschen dieselbe Sonne über sich sehen, dieselbe Luft atmen und letztlich im selben Kosmos beheimatet sind? Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, seien es Klimawandel, soziale Ungleichheit, der Zerfall traditioneller Bindungen oder die bedrohte Friedensordnung, erinnern uns daran, wie dringend wir jenes Ideal der menschlichen Zusammengehörigkeit bräuchten. Doch die Realität wirkt oft ernüchternd, denn statt Einheit sehen wir vielfach Spaltung. Statt Bruderschaft beobachten wir neue Formen der Ausgrenzung und des Hasses. Und doch ist es gerade angesichts dieser Widersprüche von unschätzbarem Wert, sich der ursprünglichen Idee zu erinnern, die Schiller so leidenschaftlich besungen hat und die Beethoven mit seinem Schlusschor geradezu in einen mystischen Klangraum transzendierte.
Die Ode ist kein naives Loblied auf eine bereits existierende Harmonie. Vielmehr ist sie eine Aufforderung, diese Harmonie herzustellen. Sie weist darauf hin, dass die Einigkeit der Menschen kein Zustand ist, den man als selbstverständlich betrachten darf, sondern etwas, das immer wieder neu errungen werden muss. In Schillers Zeilen lebt ein Impuls, der zum tätigen Engagement für das Gute, Wahre und Schöne anregt. Diese Begriffe mögen heute altmodisch erscheinen, doch sie bergen einen ungebrochenen Kern: Gut ist, was dem Wohlergehen aller dient; Wahr ist, was jenseits von Lügen und Propaganda Bestand hat; und Schön ist, was uns über uns selbst hinaushebt, uns inspiriert und erkennen lässt, dass unser Dasein ein Geschenk ist, kein selbstverständliches, sondern ein prekäres und schützenswertes.
Wenn die Musik Beethovens diese Verse umschlingt, so geschieht etwas Wunderbares: Aus der Poesie, die an sich schon eine Erkenntnisebene eröffnet, wird durch die klangliche Gestaltung ein Raum für Empfinden, Erleben, sich Ausliefern an die Kraft des Ideals. Beethoven schafft es, Schillers Worte noch über ihren poetischen Gehalt hinauszuheben. Während man den Text liest, empfindet man seine Bedeutung intellektuell, während man ihn aber singt und hört, gewinnt er eine unmittelbare körperliche Präsenz. Die Musik bildet ein Medium, um die abstrakte Vision von Menschlichkeit, Eintracht und Freude sinnlich erfahrbar zu machen. Hierin liegt auch der Grund, warum diese Sinfonie als Menschheitsdokument betrachtet wird: Sie ist nicht nur ein historisches Werk ihrer Zeit, sondern ein Vermächtnis an alle nachfolgenden Generationen.
Wir leben heute in einer Welt, in der Informationen rasch fließen, in der Technologien uns die Möglichkeit geben, mit entlegenen Teilen des Erdballs in Sekundenschnelle zu kommunizieren. Zugleich verschärfen sich Ressentiments, entstehen neue Fronten – ob national, ideologisch oder religiös. In diesem Spannungsfeld könnte man die Botschaft der „Ode an die Freude“ als eine Art moralische Orientierungshilfe begreifen, eine Erinnerung daran, dass wir alle letztlich in einem großen Beziehungsgeflecht leben, das uns verbindet. Die berühmten Zeilen „Alle Menschen werden Brüder“ sind kein Symbol einer längst verflossenen Aufklärungsseligkeit; sie sind eine Aufforderung an uns, die Möglichkeit der Eintracht im Bewusstsein zu behalten, auch wenn der praktische Weg dorthin von Niederlagen, Fehlschlägen und Missverständnissen gesäumt ist.
In der heutigen Zeit ist die Frage nach Identität zu einer Schlüsselfrage geworden. Wer sind wir als Individuen und als Gesellschaft? Schillers Ode weist darauf hin, dass wir unser Selbst nicht ohne den Anderen denken können. Der Gedanke der Freude ist in diesem Sinne kein privates Glück, sondern ein geteiltes. Freude, die nur dem Einzelnen gehört, wird leicht brüchig, ja fast steril. Freude entfaltet ihre Kraft erst dann vollends, wenn sie sich mitteilt, wenn sie überschwappt und ansteckend wirkt. Hier mag man an Feste denken, an gemeinsames Singen, an ritualisierte Ereignisse, in denen Menschen zusammenkommen, um jenseits ihrer Unterschiede ein Gemeinschaftserlebnis zu teilen. Beethoven greift diese Idee auf, indem er im letzten Satz seiner Sinfonie die Grenzen zwischen rein instrumentalem Klang und menschlicher Stimme aufhebt. Der Chor steht für die Gemeinschaft an sich, für die Macht des Kollektivs, das mehr ist als die Summe seiner Teile.
Ein weiteres Moment, das uns heute besonders betroffen machen kann, ist die Auseinandersetzung mit der Frage: Was heißt Humanität im digitalen Zeitalter? Wenn wir durch soziale Medien oft nur noch gefilterte und verzerrte Bilder der Realität sehen, wenn Algorithmen unsere Wahrnehmung steuern und überall neue Mauern aus Misstrauen und Fehlinformationen entstehen, dann kann die Ode als ein Gegenbild fungieren. Sie ruft uns in Erinnerung, dass der Mensch nicht allein durch Daten oder ökonomische Rationalitäten definiert werden darf, sondern durch seine Fähigkeit, mitfühlend, empathisch und kreativ zu sein. Die Freude, von der Schiller spricht, ist kein oberflächlicher Jubel, sie ist ein Symbol jener tiefen emotionalen und moralischen Intelligenz, die uns befähigt, die Welt nicht nur als eine Sammlung von Objekten zu sehen, sondern als einen lebendigen Kosmos voller Wesen, die alle nach Erfüllung streben.
Zugegeben, es ist ein hohes Ideal, in einer Ära, in der vielerorts Gewalt, Ungerechtigkeit und Ungleichheit herrschen, den Gesang von Eintracht und Brüderlichkeit als Wegweiser zu nehmen. Doch genau hier liegt der Wert solcher Texte und solcher Musik: Sie rufen uns ins Gedächtnis, dass der Mensch fähig ist, mehr zu sein als ein getriebenes, egoistisches, um Macht ringendes Wesen. Sie zeigen, dass inmitten des Lärms, der Zerwürfnisse, der Gleichgültigkeit und des Zynismus eine Stimme erklingen kann, die eine andere Möglichkeit der Existenz verheißt. Nicht als flüchtige Illusion, sondern als normativer Horizont, an dem wir unser Handeln messen können. Nicht, weil wir jemals eine vollkommene Einheit erreichen werden, sondern weil der Weg dorthin, das Streben danach, uns bereits veredelt.
Die Bedeutung von Beethovens Neunter, von Schillers Text, liegt nicht zuletzt darin, dass sie uns daran erinnern, was Kultur vermag. Kultur ist mehr als nur ästhetische Unterhaltung, sie ist ein Raum, in dem Werte, Ideen, Sehnsüchte und Utopien ausgedrückt, verhandelt und geteilt werden. Durch das Erleben der Aufführung, durch das Eintauchen in den Klang und die Worte, machen wir eine Erfahrung, die an unser eigenes Potential als menschliche Wesen appelliert. Wir beginnen, uns vorzustellen, wie eine Welt aussähe, in der Schillers Worte Wirklichkeit wären, wo Freude nicht nur ein zufälliges Produkt privater Umstände, sondern ein geteiltes, freudvoll-brüderliches Grundrauschen des Miteinanders ist.
Im Lichte der gegenwärtigen Herausforderungen – der Verunsicherung durch Pandemien, der Erschütterungen durch Kriege und Kriegsdrohungen, der zunehmenden ökologischen Katastrophen – wirkt dieser Gedanke weder antiquiert noch weltfremd. Er wirkt wie eine stille Mahnung, wie ein Fixstern, an dem wir unser moralisches und geistiges Navigieren ausrichten können. Denn gerade dann, wenn alle äußeren Sicherheiten zu wanken scheinen, brauchen wir innere Leitbilder, die größer sind als unser unmittelbares Eigeninteresse.
Die Ode an die Freude ist nicht nur ein historischer Text, nicht nur ein ästhetischer Genuss. Sie ist eine geistige Verbeugung vor dem, was den Menschen adelt: seine Fähigkeit, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten, sie nicht als Werkzeuge, sondern als Mitwesen zu betrachten, fähig zu einem gemeinsamen Ziel, das größer ist als der einzelne. Die Freude, die Schiller meint, ist nicht die Ekstase des einzelnen Moments, sondern eine grundlegende Seelenhaltung, die erkennt, dass wir alle Glieder einer großen Kette sind. Diese Kette kann nur halten, wenn jedes Glied sich als wichtig, aber nicht als Selbstzweck begreift.
Das Zusammenspiel von Schillers Text und Beethovens Musik ist eine tiefgreifende Fusion von Idee und Sinnlichkeit, von Denken und Fühlen, von Intellekt und körperlicher Resonanz. Wir spüren die Botschaft nicht nur, wir verkörpern sie, wenn wir sie singen oder innerlich nachvollziehen. Damit wird dieser Moment im Konzertsaal, dieses finale Aufleuchten der menschlichen Stimme im Orchesterrund, zu einem lebendigen Zeugnis dafür, was gemeinsames Erleben heißt.
Insofern ist es kein Zufall, dass diese Sinfonie insbesondere in kritischen Momenten der Geschichte immer wieder aufgeführt wurde, um Hoffnung zu spenden, um ein Zeichen der Eintracht zu setzen. Sie wurde gespielt, als Europa nach Kriegen neu zusammenfinden musste, sie erklang als Manifest für die Menschheit in Zeiten des Kalten Krieges, und sie ertönt noch heute, wenn es darum geht, den Wert von Frieden und Verständnis in Erinnerung zu rufen. Jedes Mal, wenn wir ihr lauschen, führen wir diesen Dialog mit der Vergangenheit, aber auch mit einer möglichen Zukunft. Wir fragen uns erneut, ob die Menschheit aus ihren Fehlern lernt, ob sie ihre Fähigkeit zur Versöhnung entdeckt, ob sie inmitten aller Unterschiede und Spannungen doch einen gemeinsamen Grundton findet, der sie verbindet.
So bleibt die Ode an die Freude nicht ein historisches Relikt, sondern eine Einladung zu einem tieferen Verständnis von Gemeinschaft. Sie fordert uns auf, die Grenzen des Ich zu überschreiten, die Mauern des Misstrauens zu durchbrechen und uns auf die Suche nach jenen Verbindungen zu begeben, die uns zusammenhalten, gerade weil wir verschieden sind. Ihre Aktualität liegt darin, dass sie kein fertiges Konzept bietet, sondern ein offenes Ideal: ein Ideal, das wir stets neu interpretieren und mit Leben füllen müssen, wenn es nicht zur leeren Floskel verkommen soll.
Indem wir uns auf Schillers Worte und Beethovens Musik einlassen, lernen wir, dass wahre Freude nicht aus der Abgrenzung, sondern aus der Begegnung erwächst. Wir lernen, dass echte Erhabenheit nicht im Hochmut, sondern im Handreichen liegt. Und wir lernen, dass die Kunst, besonders in ihrer Verbindung mit poetischen Visionen, uns daran erinnern kann, was für Wesen wir sein könnten – nicht nur zerstörerische, sondern aufbauende, nicht nur egoistische, sondern mitfühlende, nicht nur vereinzelte, sondern verbunden in einem großen Chor, der – allen Widrigkeiten der Geschichte zum Trotz – die Melodie der Menschlichkeit erhebt.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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