Ein Liederabend, der das Menschsein einfing
Konstantin Gorny am Badischen Staatstheater

- Foto: Felix Grünschloß
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In diesem dunklen Raum, der sogleich zu vibrieren beginnt, sobald die ersten Töne erklingen, entfaltet sich jenes Mysterium, das wie eine leise Beschwörung auf die Zuhörenden herniedersinkt. Konstantin Gorny, so meisterhaft in seinem Fach und zugleich ein Wanderer im weiten Gelände der Empfindungen, betritt die Bühne mit jener stillen Größe, die nur aus tief verinnerlichter Hingabe erwachsen kann. Sein Bass, warm grundiert und doch voll strahlender Macht in den Höhen, scheint in diesem Augenblick zu schweben wie das kühle Mondlicht über einer nächtlichen Landschaft. Man wähnt sich in einem zwischen den Welten schwebenden Reich, in dem die Grundthemen des menschlichen Seins – Liebe, Sehnsucht, Wahnsinn und Tod – in gestalthaft gewebten Klängen zu gegenwärtiger Realität werden. Hier, in diesem Theaterraum, erhebt sich eine musikalische Szenerie, die nicht nur die Ohren, sondern vor allem das Innerste jedes Anwesenden trifft.
Schon im ersten Lied offenbart sich die gewaltige Spannweite, mit der Gorny sein Timbre lenkt. Der Bass, in den Tiefen voll dunklem Schimmer, erhebt sich in geraden Linien, in denen ein subtiles Leuchten hervorzublitzen scheint. Als würde eine unsichtbare Hand einen Fensterflügel weit öffnen, strömt ein Odem von Fernweh in den Saal: jene stille Wehmut, die sich einstellt, wenn das Herz die Grenzen seiner alltäglichen Fassung zu sprengen beginnt und in die großen Sphären menschlicher Regungen vordringt. Gornys Stimme nimmt davon Notiz wie ein See vom Spiegeln eines Mondstrahls. Mit behutsamer Präzision verleiht er jedem Wort und jeder Silbe eine unbedingte Bedeutung, sodass man hinter jeder Zeile ein ganzes Universum an Gefühlen zu erahnen beginnt. Zugleich breitet sich eine seltsame Ruhe aus, eine Spannkraft, die sich in den Pausen zwischen den Liedern wie ein lautloser Atem sammelt, nur um sich bald darauf in Applaus zwischen den Stücken entlädt. Das mag einige gestört haben, doch er war auch einfach zu gut um nicht zu Klatschen.
In den Liedern Rachmaninovs, die von flüsterndem Begehren und stiller Klage erzählen, tritt Gorny als sachkundiger Reisender in die Intimität jener Seelenlandschaften ein, in denen Unausgesprochenes lauert. Ganz besonders, wenn die Texte von nächtlicher Schwermut raunen, sobald das lyrische Ich um eine verlorene Liebe ringt oder eine ferne Erinnerung beschwört, formt sein Bass hauchzarte Schattierungen der Sehnsucht heraus. Jeden Ton lässt Gorny aus dem Klangfundament emporsteigen, als führte er einen langsamen Tanz mit den Geistern der Erinnerung auf. Dabei vergisst man beinahe, dass da ein einzelner Sänger auf der Bühne steht. Man sieht vielmehr ein klangliches Schauspiel.
Nicht weniger eindringlich gestalten sich die Lieder Tschaikovskys nach der Pause, die mit ihrer Mischung aus herzbewegender Sanftheit und leidenschaftlicher Aufwallung die Seele ansprechen. Hier tritt zu Tage, wie sehr Liebe und Todesnähe mitunter Geschwister sein können: In einer Zeile seufzt das lyrische Ich, im nächsten Augenblick steigert es sich in ein Rasen der Gefühle, das jeden gesicherten Boden unter den Füßen fortreißt. Da fühlt man, wie Gorny bewusst Brüche in seinen Vortrag einarbeitet, um mit kontrastierenden Klangfarben zu spielen. Mal haucht er eine Wendung beinahe berührungszart, mal legt er dröhnende Intensität in den Ausruf. Es ist, als formte er jedes Lied zu einem kleinen Drama, in dem die Charaktere ihre ganz eigene Stimme bekommen. So erleben wir in einem einzigen Programm mehrere Welten: die flehende Sehnsucht, die trotschimmernde Kraft des Wahns, die erhabene Klage und das zögernde, fast schmerzlich verschlossene Ringen um Nähe und Erfüllung.
Sobald die Lieder Mussorgskys erklingen, wandelt sich die Atmosphäre noch ein mal merklich. Die Töne, zuvor von weicher Melancholie durchdrungen, schwellen zu dramatischer Dichte an. Hier windet sich eine unbändige Kraft empor, wenn die Verse vom Wüten des Schicksals erzählen. Das Motiv des Todes, mit jener Mischung aus unbarmherziger Härte und beinahe sanfter Verführung, zieht sich wie ein schimmernder Faden durch die Komposition. Gorny gelingt es, diesen Faden aufzunehmen und in ein vokales Gewand zu hüllen, das die Schauer und den Trost gleichermaßen erfahrbar macht. Ob in der düsteren Erzählung eines Bauern, der in der Finsternis einer nächtlichen Schneelandschaft dem Ende entgegengetrieben wird, oder in jenem unwiderruflichen Ruf, der sich über ein weites Schlachtfeld erhebt und die Gefallenen in eine letzte Parade versammelt – stets schwingt etwas Uraltes mit, das den Kern aller großen Erzählungen vom Ende widerspiegelt. Gornys Bass offenbart in diesen Momenten eine Erhabenheit, die Zartheit einschließt: ein entwaffnendes Gefühl, dass wir nicht nur Zeugen einer Theatersituation sind, sondern uns existenziellen Mysterien stellen.
Der Wahnsinn, so scheint es, lauert in mancher Passage bloß um die Ecke. In den Texten klingen Stimmen verwirrter Liebe an, Verlangen, das mit rasender Intensität an den Grenzen der Vernunft rüttelt. Da erschauert der Hörer, wenn Gorny seinen volltönenden Bass ganz ohne Schwere in luftige Höhen hebt und mit traumwandlerischer Sicherheit jene feinen Linien singt, die bei geringster Unachtsamkeit in sich zusammenfallen könnten. Hier offenbart sich sein technisches Können in kaum fassbarer Perfektion. Ob im Legato oder in raschen Passagen, seine Stimme bleibt fokussiert, das Vibrato behutsam geführt, die Intonation makellos. In jenen Momenten, in denen die Komposition die Stimme herausfordert, als wollte sie die Grenzen der menschlichen Stimmbänder ausloten, erhebt Gorny das Timbre zu einer fast sakralen Reinheit.
In diesen Ausflügen zu den Texten – mal in ihrer lyrisch zarten, mal in ihrer wuchtig auftrumpfenden Form – blitzen immer wieder Bilder auf, die gleichsam den elementaren Urgrund des Menschlichen berühren. So ist etwa das flehentliche Verlangen, nicht verlassen zu werden, in vielen Liedern zugegen. Ein Blick, der bettelt, man möge dableiben; eine Hand, die verzweifelt nach dem geliebten Gegenüber greift. Mit jeder gesungenen Zeile erinnert Gorny daran, dass die Stimme, obwohl sie ein Instrument aus Fleisch und Blut ist, ein Bote jener Sehnsucht sein kann, die aus tiefster innerer Zone aufsteigt und jeden rationalen Gedanken übersteigt. In anderen Liedern, in denen sich die Finsternis des Todes herabsenkt, spürt man ein Erschauern, das nicht bedrückt, sondern beinahe seltsam erhaben wirkt. Gerade diese Ambivalenz – einerseits das Dunkel, das uns an den Rand des Verstummens führt, andererseits ein Licht, das uns in seiner Klarheit umfängt – scheint durch Gornys Stimme hindurchzuleuchten.
Die Klavierbegleitung von Wolfgang Wiechert fungiert dabei wie ein subtiles Schattenreich, das Gorny in seinen vokalen Linien vorantreibt, stützt oder zugleich einhüllt. Wenn etwa zarte Harmonien wie Wellen den Raum füllen, webt sich Gornys Bass in diese Struktur, gibt ihr Kontur und weitet sie ins Grenzenlose. Dann wieder erklingen harte Akkorde, die wie ein scharfes Erschrecken in den Geist fahren, worauf Gorny sofort in eine Kraft hineingeht, die nicht nur laut, sondern in ihrer Bündelung getragen ist. Er lässt seine Stimme als Organ sprechen, das sich der dramatischen Notwendigkeit keineswegs entzieht, sondern sie vollendet, indem es zur brüchigen Entgrenzung oder zur stillen Erlösung wird.
In all diesem Spiel der Gegensätze – Liebe und Tod, Verlangen und Erlösung, Wahnsinn und Besinnung – vollzieht sich ein Vorgang, der weit über eine bloß klangliche Darbietung hinausweist. Es ist, als ruhe in Gornys Interpretation eine leise, unaufdringliche Einsicht in das, was uns im Innersten bewegt. Ganz ohne belehrenden Tonfall oder verkündete Lehre führt er seine Zuhörer an jene Orte der Seele, an denen Vertrautes und Unbegreifliches ineinanderfließen. Dabei verzichtet er auf jede übertriebene Gestik oder theatralische Pose. Vielmehr bleibt er der Musik treu: Seine Interpretation scheint allein aus dem Notentext und den Worten herauszuwachsen, geerdet in einer Handwerkskunst, die beeindruckend versiert und dennoch unaufdringlich ist.
So gleicht der gesamte Liederabend einer langen Reise, auf der man jedes Mal aufs Neue staunt, wie eng die großen Themen einander verwoben sind. Wo im einen Moment die Liebe als leuchtendes Versprechen aufscheint, taucht sogleich die Vorstellung ihres möglichen Endes im Tod auf, oder der Gedanke an den Verstand, der der Leidenschaft nicht gewachsen ist und in den Wahn abzugleiten droht. In diesem Hin und Her spiegelt sich etwas Archaisches: Wir erkennen uns in den Gestalten, die da singen, klagen, jubilieren und verzweifeln. Mehr noch, wir fühlen uns als Teil jener universalen Geschichte, die in Liedern und Gedichten bereits unzählige Male erzählt wurde und sich doch nie erschöpft. Gornys Bass erhebt sich zum Zeugnis dieses Kontinuums, das sich durch Generationen, Völker und Zeiten zieht – stets neu, stets derselbe Urklang des menschlichen Herzens.
Wenn dann der Abend sich dem Finale nähert und man meint, keinen weiteren Sturm der Gefühle mehr aufnehmen zu können, schenkt uns Gorny eine Art musikalische Zusammenfassung jenes Ganzen, das uns bewegt. Ein letztes Lied, in dem die einfachen Worte sich mit großen Harmonien verbinden, treibt uns an die Schwelle des Verstummens. Da öffnet sich die Stimme noch einmal wie eine Torheit und eine Gnade zugleich, erinnert an die Gebrochenheit des Menschen und seine Fähigkeit, sich in Augenblicken ungeahnter Größe zu erheben. Man spürt plötzlich, dass man Zeuge einer Art Einkreisung des Daseins geworden ist: ein Abend, getragen von jenen Grundkräften, die das Menschsein formen und bestimmen.
Und tatsächlich scheint Gorny am Ende nichts Geringeres zu erreichen, als diese Fülle unseres Daseins einzufangen. Ohne jede Beiläufigkeit, doch auch ohne die Anmaßung, etwas endgültig klären zu wollen, entlässt er sein Publikum in eine Stille, die ringsum voller Ahnung und flüchtiger Leichtigkeit ist. Man wünscht sich, wie die Zuhörenden kaum zu klatschen wagen, als sei dieser Augenblick zu fragil, um ihn sogleich mit weltlichem Beifall zu brechen, doch der Jubel bricht los, erst nach einem Atemzug, wenn die erste Ergriffenheit sich in einem Gefühl sanfter Rührung löst, brandet Applaus auf, der wie ein Befreiungsschlag wirkt. Die Augen mancher sind feucht, ob aus Rührung oder einer Traurigkeit, die sich nicht in Worte fassen lässt.
In der Summe aller gesungenen Töne, der gefühlten Erschütterungen und jener Ausblicke in weite Sphären ruht daher ein Zauber, der jede rationale Erklärung überschreitet. Was Gorny auf die Bühne bringt, ist mehr als ein Konzert: Es ist das Kommen und Gehen von Stürmen, das Innehalten in der Dämmerung, das Aufleuchten einer brennenden Fackel in tiefer Nacht. Es erinnert daran, dass die Kräfte, die uns lenken, zugleich die Samen unserer Größe und unserer Zerbrechlichkeit sind. Mit jedem Lied steigt eine neue Geschichte empor, die doch nur die Facette eines Ganzen ist. Am Ende fügt sich alles zusammen, wie die Farben eines Gemäldes, das in der Betrachtung zu leben beginnt, während es im nächsten Moment schon wieder die Fragen weckt, die uns begleiten werden.
So verlässt man das Badische Staatstheater in einem Zustand, der sich nicht in ein kurzes Fazit pressen lässt. Man wurde Zeuge eines meisterlichen Vortrags, dessen Schichten sich erst allmählich entfalten und der eine Weite im Herzen hinterlässt. Konstantin Gorny hat ein Denkmal jener Empfindungen gesetzt, die seit jeher in Liedern besungen werden und in jedem Menschen in irgendeiner Form widerhallen: das Beben der Liebe, das Schweigen der Sehnsucht, die Raserei des Wahns und die Sanftmut des Endes. In jedem Laut und jeder Pause lebte das große Versprechen, dass Kunst weit mehr sein kann als Unterhaltung – nämlich eine spiegelnde Reflexion des Innersten. Und so ist es kein Wunder, dass Gornys Bass, der sich in alle Höhen erhebt und in den Tiefen klangvoll ruht, von Anbeginn bis zum letzten Ton stets die Seelen seiner Zuhörer mittrug.
Autor:Marko Cirkovic aus Durlach |
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