Das gebrochene Pathos
Mahlers 6. Sinfonie am Staatstheater Karlsruhe

Foto: Arno Kohlem

Es fällt mir außerordentlich schwer, solche Zeilen zu schreiben, da Gustav Mahlers Sechste Sinfonie – häufig als „Tragische“ bezeichnet – zu jenen Werken gehört, denen ich eine fast ehrfürchtige Bewunderung entgegenbringe. Umso schmerzlicher ist es, dass Generalmusikdirektor Georg Fritzsch und die Badische Staatskapelle an diesem Vormittag sämtliche Möglichkeiten verschenkt haben, Mahlers meisterhafte Dramaturgie zum Leuchten zu bringen. Statt einer subtil abgestuften und klangsinnlichen Interpretation erlebte man größtenteils eine laute, grobschlächtige und in ihrer Differenzierung völlig vernachlässigte Darbietung, die in emotionaler Bedeutungslosigkeit ausuferte.

Dabei verlangt gerade diese Sinfonie ein Höchstmaß an Sorgfalt in der Nuancierung. Mahler baut in seinen vier Sätzen ein dichtes Gewebe aus kontrastierenden Themen, überraschenden dynamischen Ausbrüchen und expressiven Zwischenspielen, das zwingend eine plastische Gestaltung und kontrollierte Spannungsbögen erfordert. Die berüchtigten „Hammer Blows“ im Finale sind kein reiner Effekt, sondern integraler Bestandteil eines fein austarierten Klangverlaufs, in dem jähe rhythmische Sprünge und raffiniert verschobene Klangfarben für den dramatischen Sog sorgen. All das blieb in Fritzschs Lesart und „Dirigentur“ jedoch weitgehend unberücksichtigt. Statt organischer Steigerungen und akribisch herausgearbeiteter Motivverknüpfungen wirkten die Forte- und Fortissimo-Passagen wie pauschale Lautheitsausbrüche ohne inneren Zusammenhang. Agogische Feinheiten, die für Mahler essentiell sind, wurden ignoriert oder zumindest nicht deutlich herausgestellt, und die Kontraste, von denen diese Sinfonie im Grunde lebt, kamen entweder zu früh oder klangen verschliffen.

Besonders drastisch fiel dies in den ersten beiden Sätzen auf, wo das Orchester offenbar ohne klare klangliche Linie oder subtile Phrasierungen musizieren musste. Die detailreiche Instrumentationskunst Mahlers, die sonst in irisierenden Farbwechseln und vielschichtiger Polyphonie erstrahlt, wurde überrollt von einer bemerkenswert unreflektierten Lautstärke. Auch eine kohärente Tempogestaltung ließ sich nicht wahrnehmen: Statt die oft abrupten Tempowechsel und Rubati in einen dramaturgischen Kontext zu setzen, entstanden Brüche, die wie bloße Unfälle wirkten.

Dann allerdings überraschte der dritte Satz mit einer wundersamen Wendung. Hier bewies die Badische Staatskapelle, wozu sie in der Lage ist. Getragen von den grandiosen solistischen Einsätzen – insbesondere in den Holzbläsern und Streichern – gelang ein Moment aufrichtigen Zaubers. Die Klangbalance wirkte plötzlich stimmig, die melodische Linienführung atmete, und das Orchester formte jene berührende Intensität, die man sich insgesamt erhofft hatte. In diesem Augenblick wurde offenkundig, dass die Musiker trotz unzulänglicher Leitung jederzeit zu großer Ausdruckskraft fähig sind.

Auch der vierte Satz zeigte, dass hinter dem allzu brachialen Schroffsein durchaus eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Mahler möglich ist. Plötzlich war die Partitur kein bloßes Schlachtfeld mehr, sondern entfaltete sich in einer epischen, sorgfältig gegliederten Dramaturgie. Endlich erkannte man die Absicht hinter den hämmernden Schlägen, den verzweifelt aufschreienden Blechbläsern und den düster flirrenden Streicherflächen. Doch die Sinfonie besteht nun einmal aus vier Sätzen, nicht aus zwei, und so bleibt ein insgesamt unausgewogenes Bild zurück. Dass das Finale stimmiger geriet, kann den Frust über die enttäuschende Ausgestaltung der vorangegangenen Teile nicht aufwiegen.

Am Ende drängt sich der Eindruck auf, dass Fritzsch die ersten beiden Sätze – die für die Vorbereitung des großen Schlussdramas so entscheidend sind – unzureichend erarbeitet oder gar vernachlässigt hat. Es bleibt der bittere Beigeschmack, dass hier eine der zutiefst visionären Sinfonien des 20. Jahrhunderts zur gefühlten Farce verkommen ist. Wo Mahler innere Spannungen mit äußerster Raffinesse aufbaut und entlädt, hörte man in den ersten Sätzen vor allem dickfellige Lautstärke und mangelnden Gestaltungswillen. Das Publikum wurde teils ohnmächtig beschallt, um dann in den späteren Sätzen mit einem vermeintlich überwältigenden Finale versöhnt zu werden. Diese dramaturgische Schieflage kratzt am Fundament von Mahlers Kunst: Die Sinfonie ist keine Nummern-Revue, bei der man sich nur den fulminanten Schlusspunkt abholt und den Rest achtlos liegen lässt. Solch eine Herangehensweise kommt beinahe einer Irreführung der ZuhörerInnen gleich – und wird weder den Ansprüchen des Komponisten noch den Möglichkeiten des Orchesters gerecht. So bleibt im Ganzen die ernüchternde Erkenntnis, dass diese großartige Musik an diesem Vormittag kaum mehr war als ein halbes Versprechen, das GMD Fritzsch wider besseres Wissen nicht einlöste.

Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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