Wir müssen Solidarität üben! - Im Gespräch mit Astrid Fehrenbach
Mannheim.Schon früh um 8.30 Uhr klingelt es an diesem Tag zum ersten Mal. Die Tür zu den hellen und offenen Räumen von Amalie in der Draisstraße 1 öffnet sich, die beiden Frauen treten ein und werden freundlich begrüßt. Heute steht ein Arzttermin an, zu dem sie begleitet werden.
Amalie gibt es seit 2013. Die Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution in Trägerschaft des Diakonischen Werks besteht aus einem kleinen hauptamtlichen Team von sechs Personen, unter anderem vier Sozialarbeiterinnen und einer Sprachmittlerin, die bei Gesprächen, Amtsgängen und Arztbesuchen übersetzt und vermittelt. Zusammen mit zahlreichen Ehrenamtlichen möchten sie Frauen eine wichtige Anlaufstelle bieten. „Unser Hauptanliegen“, so Leiterin Astrid Fehrenbach, „ist die psychosoziale Begleitung der Frauen in der Prostitution“.
Wie sieht eine solche Begleitung aus, Frau Fehrenbach?
Die Grundlage unserer Arbeit ist die aufsuchende Arbeit. Es kommen zwar auch hin und wieder Frauen direkt in die Beratungsstelle, aber hauptsächlich suchen wir die Frauen direkt an den Prostitutionsorten auf. Mit Streetwork erreichen wir viele Frauen. Ein Teil findet dann den Weg zur Beratungsstelle, sie lernen uns kennen und es entsteht Vertrauen. Vertrauen ist die Basis! Nur so kann ein Beratungsprozess beginnen.
Die Probleme der Frauen sind ganz unterschiedlicher Natur. Ein wichtiges Angebot ist deshalb unsere gynäkologische Sprechstunde. Ehrenamtliche Ärztinnen bieten Gesundheitsberatung, Untersuchungen und unterschiedliche Tests an. Das ist wichtig, weil die Frauen häufig große gesundheitliche Probleme haben, die auch durch die Prostitution entstehen. In der Regel sind die Frauen, die zu uns kommen, nicht krankenversichert. Als Selbstständige müssten sie einen hohen Betrag zahlen, den sie nicht aufbringen können.
Unser Ansatz ist eine voraussetzungslose Beratung. Das bedeutet, wir beraten in allen Lebenssituationen und nicht mit einem konkreten Ziel, zum Beispiel einem Ausstieg. Wir nehmen erst mal die Fragen der Frauen auf. Viele wünschen sich tatsächlich eine Alternative, wissen aber nicht, wie sie das bewerkstelligen können. Selbst mit unserer Hilfe ist dieser Weg sehr schwer, weil es viele Hürden gibt.
Was haben die Frauen, die zu Ihnen kommen, gemeinsam?
Ein Großteil der Frauen, die uns aufsuchen, sind Migrantinnen. Das ist auch bundesweit die Beobachtung: Mindestens 80 Prozent der Prostituierten kommen aus dem Ausland. Zum Teil kommen sie aus der EU, zum Beispiel aus Rumänien und Bulgarien - das nehmen wir auch hier in der Neckarstadt wahr. Viele kommen allerdings auch aus Herkunftsländern, die ihnen eine Aufenthaltserlaubnis hier unmöglich machen, werden teilweise von Menschenhändlern hergebracht und sind illegal in der Prostitution tätig. Wir gehen davon aus, dass sehr viele Frauen nicht angemeldet sind. Ein weiteres Problem ist eine sichere Wohnmöglichkeit. Die Frauen können keine Verdienstbescheinigung vorlegen, was auf dem Wohnungsmarkt essenziell ist. In der Regel leben sie deshalb in prekären Wohnverhältnissen, im Milieu oder ihrem „Arbeitszimmer“. Eine Meldeadresse kann sehr häufig nicht begründet werden. Bei einem Ausstieg ist es dann schwer nachzuweisen, wie lange man eigentlich schon hier ist – mit allen Folgeproblemen. Im Grunde haben die Frauen durch unsichere Wohnverhältnisse die gleichen Probleme wie wohnungslose Menschen. Damit müssen wir gerade, wenn wir im Ausstieg begleiten, arbeiten – Amalie hat deshalb auch eine Ausstiegswohnung mit drei Zimmern, die immer voll sind.
Womit sehen sich die Frauen, die aussteigen wollen, konfrontiert?
Prostitution ist legal – wir haben einen riesengroßen Markt für den Verkauf des Frauenkörpers und eine Gesellschaft, insbesondere Männer, die bei der Inanspruchnahme ohne Unrechtsbewusstsein Grenzen überschreiten. Darin sehen wir natürlich ein großes Problem. Ich bin sehr froh, dass es Vorstöße gibt, an der politischen Situation etwas zu ändern. Wir halten das für notwendig, weil wir sehen, dass der Einstieg in die Prostitution in Deutschland sehr leicht ist. Nach zwei Beratungsgesprächen beim Gesundheitsamt und dem Ordnungsamt kann man sich einen Ausweis ausstellen lassen und dann ganz legal in der Prostitution tätig sein. Auszusteigen dagegen ist sehr, sehr schwierig. Es gibt Probleme und Hürden, die können in jedem Einzelfall anders aussehen. Manchmal sind zum Beispiel die Papiere weg und eine Frau kann gar nicht nachweisen, dass sie schon zehn Jahre in Mannheim in der Prostitution tätig ist. Mit solchen Problemen konfrontiert, fällt es leicht nachzuvollziehen, dass die Verzweiflung der Frauen sehr groß ist. Wir können schlecht davon ausgehen, dass jemand heute in der Prostitution aufhört und morgen eine Vollzeittätigkeit hat. Die Voraussetzungen hierfür sind nicht da, sie müssen geschaffen werden. Wir haben hier ein Problembündel. Und ich denke, die Gesellschaft muss wahrnehmen, dass wir hier Frauen haben, mit denen wir Solidarität üben und die in ihren Rechten gestärkt werden müssen.
2022 haben Sie die Leitung von Amalie übernommen. Was hat Sie in diesen zwei Jahren besonders beschäftigt?
Wir haben hier gute Grundlagen, sind gut vernetzt, und sehr dicht an den Frauen dran. Aber die Landschaft verändert sich. Die Vermittlung verschiebt sich ins Internet und darauf müssen wir reagieren. Deshalb bin ich umso glücklicher darüber, dass in Baden-Württemberg im letzten Jahr ein Förderprogramm für die anonyme Krankenbehandlung von Menschen ohne Krankenversicherung aufgelegt hat. Es wurde auch die Zielgruppe der Prostituierten mit aufgenommen und wir haben uns auf ein Zusatzprojekt beworben. Jetzt können wir Frauen, die an anderen Orten tätig sind – zum Beispiel in der Wohnungsprostitution, in Boarding-Häusern oder als Escort – und nicht durch Streetwork erreichen werden, ganz gezielt online „aufsuchen“ und ansprechen.
Öffentlichkeitsarbeit und die Vernetzung in der Mannheimer Stadtgesellschaft ist sehr wichtig für uns. Außerdem versuchen wir in die Prävention zu gehen. Letztes Jahr zum Beispiel waren wir mit einer Lesung zur Loverboy-Methode an Mannheimer Schulen. Im Austausch mit den Jugendlichen erfahren wir, wie häufig junge Frauen über diese Methode angesprochen werden und das sehr viel über die sozialen Medien. Es ist eine stärkere Sensibilisierung gegenüber dem Thema digitale Gewalt notwendig.
Gibt es einen Moment in den letzten beiden Jahren, der Sie besonders berührt hat?
Unsere Arbeit hat natürlich Abgründe, aber wir erleben gemeinsam mit den Frauen auch sehr viele schöne Momente. Im letzten Jahr ist eine Frau, die wir schon sehr lange kennen und begleiten, 40 geworden. Wir haben in größerer Runde ihren Geburtstag gefeiert und sie war sehr gerührt. Noch nie in ihrem Leben hat man ihr eine Geburtstagsparty ausgerichtet, hat sie uns erzählt. Es war ein wunderschöner Abend.
Wir teilen die Freude der Frauen, wenn sie zum Beispiel einen Sprachkurs absolviert und ein Zertifikat bekommen haben, wenn eine nach langem Kampf endlich weiß, dass sie hier bleiben darf oder wenn jemand eine Stelle gefunden hat. Die Frauen freuen sich über jeden kleinen Schritt und wir freuen uns über jeden Schritt von Herzen mit.
Was geht Ihnen an einem Tag wie dem 8. März durch den Kopf?
Der 8. März ist ja der Frauenkampftag für die Rechte von Frauen und ich sehe, dass weltweit immer noch Frauen und ihre Kinder stark von Armut betroffen sind. Aufgrund von Armut und mangelnder Existenzsicherungsmöglichkeiten gelangen Frauen in die Prostitution. Männern ist es möglich, einen Frauenkörper zu kaufen - wie eine Ware - und das verstößt natürlich fundamental gegen die Gleichstellung der Geschlechter. Viele Frauen in der Prostitution erleben Gewalt, gegen die wir in allen anderen Sparten der Gesellschaft sehr sensibel reagieren. Aber hier haben wir eine Art Parallelwelt, in der Gewalt an Frauen ausgeübt wird. Das kann nicht in Ordnung sein. Hier müssen wir die Augen öffnen. Solidarität mit Prostituierten ist wichtig; Solidarität mit den Menschen und ein Nachdenken über das System. Das Ziel ist ein selbstbestimmtes Leben ohne Gewalt oder um es mit den Worten unserer Namensgeberin Amalie Struve zu sagen: ‚Frauenrechte sind Menschenrechte!‘ [sic]
Die nächsten Termine:
Mittwoch, 13. März, 18 Uhr, Vortrag im Marchivum: Eine „anrüchige Kolonie“? - Die Auseinandersetzung um Prostitutionsorte in Mannheim damals und heute
Freitag, 28. Juni, 10 bis 18 Uhr, jährliche Handtaschen-Charity-Aktion auf dem Paradeplatz: gut erhaltene Handtaschen werden gesammelt und gegen Spende abgegeben
Mittwoch, 2. Oktober, 18 Uhr, Veranstaltung im Marchivum: „Frauenrechte sind Menschenrechte“ – Zum 200. Geburtstag der Mannheimer Revolutionärin Amalie Struve
Autor:Jessica Bader aus Mannheim |
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