Interview der Woche
Mobilitätsexpertin Dr. Kerstin Ullrich
Von Markus Pacher
Neustadt. In Sachen Mobilitätswende tut sich etwas in Neustadt: Vor drei Jahren hat sich hier das Unternehmen MoD Holding GmbH angesiedelt, das nicht nur aufgrund seines innovativen und für viele Menschen attraktiven neuartigen Fahrdienstes, sondern auch über den autonomen Shuttle-Service zum Hambacher Schloss für Aufmerksamkeit in der Neustadter Bevölkerung gesorgt hat. Wir sprachen mit der Mobilitäts-Expertin Dr. Kerstin Ullrich unter anderem über die problematische Verkehrssituation in Neustadt und welche Alternativmodelle unsere Stadt künftig lebenswerter machen könnten.
??? Frau Ullrich, „Mobility-on-Demand“, was genau darf man darunter verstehen?
Dr. Kerstin Ullrich: Dabei handelt es ich um einen Fahrservice, der nicht wie andere öffentliche Verkehrsmittel im Takt, sondern nach Abruf fährt, also nur dann, wenn es gebraucht wird.
??? Wie ist die Resonanz der Bevölkerung auf Ihr Angebot?
Dr. Kerstin Ullrich: Wir fahren seit April diesen Jahres, und die Resonanz im Frühjahr und Sommer war gut! Wegen der Pandemie allerdings sind die Menschen momentan etwas zurückhaltend und gerade im Winter ängstlicher. Aber insgesamt konnten wir viel Neukunden gewinnen und haben mittlerweile auch viele Stammkunden. Auch nutzen nicht nur Privatleute unseren Fahrservice, sondern auch einige Händler, wie zum Beispiel die Bäckerei Liebenstein für ihre Brötchenlieferungen.
??? Wie funktioniert das System in der Praxis?
Dr. Kerstin Ullrich: Das geht ganz einfach. Die App kann man unkompliziert über die App Stores von Google oder Apple auf sein Smartphone laden, sich mit seinen Kontaktdaten registrieren und ein Zahlungsmittel, z. B. eine Kreditkarte, hinterlegen und dann kann man auch gleich buchen. Anders als ein Taxi fahren wir allerdings nicht von Tür zu Tür, sondern wir haben ein dichtes Netz an Haltepunkten, unsere MoDstops, in ganz Neustadt eingerichtet. Die MoDstops sind zum einen in der App als Punkte hinterlegt, zum anderen haben wir auch entsprechende Schilder aufgestellt, damit man sie leichter findet. Die Entfernung zwischen den einzelnen MoDstops ist nur ca. 400 Meter, so dass man egal wo man sich gerade befindet, maximal 200 Meter bis zum nächsten Haltepunkt laufen muss.
??? Warum eignet sich das Konzept von „Mobility-on-Demand“ besonders für Mittelstädte wie Neustadt oder ländliche Bereiche?
Dr. Kerstin Ullrich: Neustadt und die Kommunen entlang der Weinstraße sind besonders interessant für uns, da die Menschen hier stark auf ihr Auto angewiesen sind und sogar oftmals zwei Autos im Haushalt brauchen. Die Busse im Nahverkehr fahren im Schnitt einmal pro Stunde, was für die meisten Leute zu selten ist. Eine engere Taktung so wie in Großstädten ist gerade in Regionen wie Neustadt und Umgebung nicht machbar, das wäre viel zu teuer. Mit unserem Angebot ergänzen wir also den taktgebundenen ÖPNV. In großen Städten ist die Situation anders, denn dort gibt es in der Regel ein hervorragendes, eng getaktetes Nahverkehrssystem. Da braucht es uns nicht.
??? Haben Sie ihr Angebot auch in anderen Regionen getestet oder handelt es sich im Falle von Neustadt sozusagen um ein Pilotprojekt?
Dr. Kerstin Ullrich: Nein, bisher sind wir nirgendwo sonst präsent. Aber unser Motto lautet „Neue Mobilität entlang der Deutschen Weinstraße“, verbunden mit dem Ziel, den Menschen eine Möglichkeit zu bieten, mobil zu sein, ohne zu jeder Zeit ein eigenes Auto vorhalten zu müssen. Wir hätten schon viel erreicht, wenn sich durch unser Angebot die eine oder andere Familie überlegt und nachrechnet, ob sich das Zweitauto noch lohnt.
??? Wie beurteilen Sie die Verkehrssituation speziell in Neustadt?
Dr. Kerstin Ullrich: Als aus Mannheim kommende Nicht-Neustadterin empfinde ich die Verkehrssituation hier als eher chaotisch, insbesondere bei den oft sehr engen Straßen. Die Radwegeinfrastruktur hat sich zwar in den vergangenen zwei Jahren gebessert, aber auch hier ist noch Luft nach oben. Und so ganz ungefährlich finde ich persönlich Radfahren hier auch nicht. Auch als Fußgänger muss man ständig auf die Straße ausweichen, weil der Bürgersteig zugeparkt ist. Aber das ist in Mannheim genauso! Die Autofahrer erlebe ich hier als sehr dominant. Wie in jeder Stadt muss es langfristig um Verkehrsvermeidung gehen. Ich finde es schade, jede freie Lücke zu einem Parkplatz zu machen – gerade bei einer so schönen Stadt wie Neustadt.
??? Zu ihren innovativen Zielen zählt auch die Weiterentwicklung des autonomen Fahrens im öffentlichen Nahverkehr. Ihr Forschungsprojekt mit dem selbstfahrenden Elektro-Shuttle „Olli“ zum Hambacher Schloss hat ja ordentlich für Aufmerksamkeit gesorgt. Welche Erkenntnisse haben Sie aus den ersten Testfahrten gewonnen?
Dr. Kerstin Ullrich: Unsere Erkenntnisse, die wir in Zusammenarbeit mit unserem Projektpartner, der Technischen Universität Kaiserslautern, gewonnen haben, sind sehr vielfältig. Unsere Teststrecke ist ja nicht unproblematisch und bedeutet eine große Herausforderung. Olli muss durch“s halbe Dorf mit seinen engen Gassen, Gegenverkehr, beidseitigem Parken etc. Wir haben hier keine bereinigte Infrastruktur wie dies bei ähnlich gearteten Projekten der Fall ist. Im großen Ganzen sind wir sehr positiv und zufrieden, denn unser Olli hat bewiesen, dass er die 5,4 Kilometer lange Ringroute zu 90 % ganz allein fahren kann. Wir wissen aber auch wo technisch noch Optimierungspotenzial ist.
??? Wer ist bisher alles in den Genuss einer Fahrt mit Olli gekommen?
Dr. Kerstin Ullrich: Seit Mitte September fahren wir nach vorheriger Anmeldung zum Schloss und haben seitdem über 500 Fahrgäste befördert.
??? Und wie fanden die Leute das?
Dr. Kerstin Ullrich: Die sind ganz begeistert, wenn sie merken, dass das funktioniert und dass der Operator (Sicherheitsfahrer), der natürlich an Bord ist, um die Systeme zu überwachen, nicht eingreifen muss. Ein kleiner Wermutstropfen sind die Geschwindigkeiten, die uns der TÜV derzeit erlaubt. Während unserer ersten Fahrten mit Passagieren durfte sich Olli nur mit ca. 7 Stundenkilometer bewegen, maximal 20 sind in Deutschland für diesen Fahrzeugtyp erlaubt. Wir arbeiten natürlich mit dem Hersteller und dem TÜV daran, die Geschwindigkeit zu erhöhen und nahe an die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zu gelangen. Ich habe auch keinen Zweifel, dass uns das gelingen wird.
??? Handelt es sich bei Olli nur um ein Forschungsprojekt oder soll in absehbarer Zeit wirklich ein regelmäßiger autonomer Fahrdienst zum Hambacher Schloss eingerichtet werden?
Dr. Kerstin Ullrich: Dies ist tatsächlich unser Ziel. Aber die Realisierung hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. So wissen wir bspw. noch nicht wie der Verkehr künftig zum Schloss geregelt wird, ob alles so bleibt wie es ist, ob und wann ein Parkhaus für die Touristen gebaut wird usw.. Nächstes Jahr werden wir ganz sicher mit einem überarbeiteten Olli weiterfahren und hoffen, vorsichtig ausgedrückt, bis 2023 mit mehreren Fahrzeugen die Strecke zum Schloss befahren zu können.
??? Glauben Sie an den Fortbestand des privat gesteuerten PKW als wichtigstes Mobilitätskonzept der Menschheit?
Dr. Kerstin Ullrich: Der private PKW blickt auf eine große Erfolgsgeschichte zurück und hat in Sachen Mobilität auch viel Gutes bewirkt. Aber er kommt nun an seine Grenzen. Und das hat nicht nur etwas mit Klimaschutz zu tun, sondern auch mit dem enormen Flächenverbrauch. Meine Prognose: Die Zahl an Privatautos wird wahrscheinlich zurückgehen. Eine große Rolle spielt dabei die Politik, zum Beispiel inwieweit es ihr gelingt, die Nah- und Fernverkehrsinfrastruktur zu verbessern. Denn wie gesagt, es geht vor allem um Verkehrsvermeidung, um eine Neuverteilung der Flächen zwischen den Verkehrsträgern Auto, Rad- und Fußverkehr und letztlich um die Bevorzugung klima- und ressourcenschonender Fortbewegung.
Autor:Markus Pacher aus Neustadt/Weinstraße |
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