Leben im Van
"Wir haben einen ganz anderen Blick auf die Welt gewonnen"
Speyer. Raus aus dem Hamsterrad und her mit der Freiheit! Allen Ballast abwerfen, mit dem Van durch die Welt ziehen, sich auf das Wesentliche konzentrieren - davon träumen viele. Familie Müller aus Speyer hat den Traum wahr gemacht. Erika Müller-Runge hat gemeinsam mit ihrem Mann Christian Müller und dem damals zwölfjährigen Levin das alternative Lebensmodell ein knappes Jahr lang ausprobiert. Ihr Fazit: "Ich würde es immer wieder machen". Es sei sogar noch viel schöner gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte, sagt Erika Müller-Runge ein knappes halbes Jahr nach der Rückkehr von ihrem Abenteuer mit "Lotte".
Lotte ist der betagte Mercedes-Kleinbus, mit dem Familie Müller elf Monate lang viele tausend Kilometer unterwegs war - und fast so etwas wie ein Familienmitglied. Elf Monate lang war Lotte nicht nur zuverlässiges Transportmittel, sondern auch das Zuhause der Familie. Zugegeben: ein eher enges Heim. Und eines, bei dem auf holprigen Pisten auch schonmal die Schubladen aufgehen oder der Schrankinhalt rausfällt. Das Leben im Van verspricht die große Freiheit, aber es ist auch ein Leben auf wenigen Quadratmetern. Einfach mal so die Tür hinter sich zumachen, das geht nicht.
"Wenn man 24 Stunden am Tag auf engem Raum aufeinander hockt, dann muss man sich arrangieren", sagt Müller-Runge. Doch auch unterwegs entwickele sich eine Art von Alltag mit Routinen und Aufgaben für jeden. "Man wächst aneinander und miteinander", ist eine der Erfahrungen, die Familie Müller mit dem Leben auf engstem Raum gemacht hat. "Im Van schrumpft der Wohnraum, dafür vergrößert sich der Garten", ergänzt Erika Müller-Runge. Das Familienleben habe sich überwiegend draußen abgespielt.
Der inzwischen 13-jährige Levin genießt es dennoch, nach der Rückkehr wieder ein eigenes Zimmer zu haben. Aber es ist für ihn längst nicht mehr selbstverständlich. Auf ihrer Reise haben Müllers viele Menschen kennen gelernt, für die ein Raum ganz für sich alleine totalen Luxus bedeuten würde. "Wir haben einen ganz anderen Blick auf die Welt gewonnen", sagt Erika Müller-Runge. Wer längere Zeit mit dem Van unterwegs ist, lernt fremde Länder auf eine Art kennen, wie das während einer Urlaubsreise niemals gelingen kann, taucht völlig in die fremde Kultur ein, begegnet spannenden Menschen. Und wächst daran.
"Je weiter wir Richtung Osten gefahren sind, um so einfacher war es, mit den Menschen in Kontakt zu kommen", sagt Müller-Runge. Als Touristen im Van waren sie in Georgien, Armenien, im Irak und im Iran Exoten, wurden auf der Straße von Wildfremden angesprochen und nach Hause eingeladen. Oft zum Essen. Noch immer ist Familie Müller überwältigt von der Gastfreundschaft und der Hilfsbereitschaft der Menschen, denen sie unterwegs begegnet sind. Und noch immer tun sie sich schwer damit, wieder ganz in Deutschland anzukommen.
Drei Monate blieben sie alleine im Iran - und hatten keine Eile weiterzuziehen. Die im Vorfeld lange geplante Reiseroute musste aus vielerlei Gründen geändert werden. Eigentlich hätte es mit Lotte nach Russland und Indien gehen sollen. Doch viele Grenzen waren geschlossen, Russland wurde vom Reiseplan gestrichen, und wirre Einreisebedingungen warfen den Plan, nach Aserbaidschan zu reisen, über den Haufen. "Je länger man unterwegs ist, umso mehr lässt man sich darauf ein, nicht zu planen", ist die Erfahrung der Müllers. Und dazu gesellt sich die Erkenntnis: Wenn das eine nicht klappt, tut sich etwas anderes auf.
Elf Monate war die Familie unterwegs. Was ihnen anfangs wie eine Ewigkeit erschien, war tatsächlich viel zu kurz für die geplante Reiseroute, weiß Erika Müller-Runge heute. Entspanntes Reisen im Van, nahe an der Natur, an den Menschen und dem wirklichen Leben - Erika Müller-Runge würde sofort wieder mit Lotte auf Tour gehen. Doch ihr Sohn möchte das im Moment nicht mehr. Dennoch ist Erika Müller-Runge davon überzeugt, dass ihm die Reise gut getan hat. "Levin ist offener und kommunikativer geworden", ist sie sich sicher. Und noch bescheidener.
Levin habe Dinge gelernt, die ihm kein Schulunterricht hätte vermitteln können, sagt seine Mutter. Wie seine Eltern auch ist der 13-Jährige randvoll mit Eindrücken von der Reise zurückgekehrt, hat unterwegs fremde Kulturen, Religionen und Lebensweisen kennen gelernt. Er weiß jetzt, wofür es gut ist, englische Vokabeln zu lernen. Zum Beispiel für Telefonate mit einem gleichaltrigen Freund im Irak. Der lebt in einem Krisengebiet im Norden des Landes, so dass Levin unterwegs auch einiges über Politik und Religion gelernt hat. Und über deren Auswirkungen. Vor allem aber, sagt seine Mutter, habe er gelernt, Menschen mit Toleranz und Akzeptanz zu begegnen.
Auch die Begegnungen mit anderen Langzeitreisenden seien spannend gewesen: von jungen Leuten, die direkt nach dem Abitur mit 3.000 Euro in der Tasche gestartet und inzwischen Online-Unternehmer sind, bis hin zum Ehepaar im Ruhestand, das zu Hause alles verkauft hat, um jetzt ganz nach den eigenen Vorstellungen zu leben. Im Van. Eine große Gelassenheit, sagt Erika Müller-Runge, die habe sie alle verbunden. Für sich selbst nimmt sie aus ihrem Abenteuer die Überzeugung mit, dass man alles schaffen kann, wenn man nur will: "Wir hatten jahrelang darüber gesprochen: Irgendwann machen wir das. Statt nur darüber zu reden und davon zu träumen, haben wir uns einen Termin gesetzt. Und anschließend darauf hingearbeitet."
Abenteuerlustig - ja, blauäugig - nein. "Wir haben einen Schritt nach dem anderen gemacht: Fahrzeug, Geld, Haus, Levins Beurlaubung von der Schule", erklärt Erika Müller-Runge. Das war nicht immer einfach. "Man muss aufs Leben vertrauen und darf sich nicht verrückt machen", sagt sie heute. Sie ist überzeugt: "Man kann aus dem Hamsterrad raus." Und dabei viel lernen. Auch und vor allem über sich selbst.
Viele haben Familie Müller auf ihrem Abenteuer begleitet, das bereits mit dem Umbau von Lotte begann: Auf Instagram kann man die ungewöhnliche Reise der Familie unter globelotte53 auch jetzt noch anhand überwältigend schöner Fotos nachempfinden.
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