#briefwechsel
You've got Mehl!
Wertgeschätzte Kollegin, liebe Frau Schwitalla,
ich schreibe Ihnen heute aus der sozialen Isolation. Das öffentliche Leben ruht. Und ich fühle: nichts. Homeoffice. Es kommen nicht einmal mehr Absagen. Die Stadt ist geisterhaft leer - bis auf ein paar Unbelehrbare, die draußen vor den Restaurants weit voneinander entfernt Platz genommen haben. Wo sonst drei Kellner ordentlich zu tun haben, langweilt sich heute einer.
Die Supermarkt-Regale liefern ein verwirrendes Stimmungsbild: frisches Obst und Gemüse zuhauf, aber kein Mehl, keine Hefe. Ich hinterfrage meine bisherige Nicht-hamstern-Haltung. An der Kasse halte ich brav Abstand und ernte dennoch schiefe Blicke, weil ich ein bisschen schniefe. "Das ist nur Heuschnupfen", liegt mir auf der Zunge, aber ich lasse es dann doch. Ein T-Shirt mit Aufdruck wäre gut.
Obwohl ich doch jetzt ganz viel Zeit haben müsste, habe ich bisher weder das Ukulelespiel erlernt, noch Kantonesisch. Ich hab noch nicht mal die Bücher im Regal nach Farben sortiert. Aber ich habe wieder mit Twitter angefangen. Und ich verschicke WhatsApp-Videos. Grauenvoll, ich weiß. Die Zumba-Instruktorin meiner Wahl gibt ab sofort Online-Gruppenkurse. Ich verschiebe die Entscheidung fürs Erste und gehe lieber raus an die frische Luft. So lange es noch geht. Ausgangssperre wäre schlimm.
Auf dem Weg Richtung Feld sitzt ein Mann im Auto vorm Einfamilienhaus. Er telefoniert. Geschäftlich. Ich stelle mir vor, dass er sich vor dem häuslichen Tohuwabohu in die Einsamkeit seines Autos geflüchtet hat, um dieses Telefonat zu führen. Es wird Sie verblüffen, aber auch ich telefoniere jetzt wieder öfter. Vor allem mit meinen Eltern. Damit sie sich nicht allein gelassen fühlen. Aber auch, um sie von möglichen Dummheiten abzuhalten. Baumarkt-Besuche zum Beispiel. Der beste Zeitpunkt, die Terrasse nach mehr als 20 Jahren neu zu fliesen, scheint nämlich genau jetzt zu sein.
Liebe Frau Schwitalla, mir fehlt unser kollegiales Miteinander, das keine WhatsApp- oder Bildschirm-Nachricht, keine E-Mail, ja nicht mal ein Telefonat zu ersetzen vermag. Und es interessiert mich sehr, wie Sie mit der uns durch diese Pandemie aufgezwungenen Isolation zurecht kommen. Glauben Sie, das Coronavirus wird unseren Umgang miteinander, vielleicht sogar die Gesellschaft insgesamt nachhaltig verändern? Ich schließe diesen Beginn einer hoffentlich langen Brieffreundschaft, indem ich zugebe, dass da doch etwas ist, das ich fühle. Und zwar Neid. Weil ich weiß: "You've got Mehl." (Aber ich hab Klopapier.)
Herzlichst,
Ihre Cornelia Bauer
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