Für Sie gelesen
Robert Seethaler: "Ein ganzes Leben"

Urbane Schicksalsstudien in Romanform haben zweifellos Hochkonjunktur in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Daher ist es umso löblicher, wenn Autoren ihre Handlungen in fernab gelegenen Landschaften ansiedeln und jene fiktiven Protagonisten zu Wort kommen lassen, die von städtischen Lebensformen so weit entfernt sind wie der Süd- vom Nordpol.
Robert Seethaler beispielsweise portraitiert in seinem Roman „Ein ganzes Leben“ seine Kunstfigur Andreas Egger, ein Mensch, der im zarten Alter von etwa vier Jahren von irgendwoher in ein abgeschiedenes Tal irgendwo in Österreich familienlos verschlagen wird, sich an Ort und Stelle zunächst als Knecht verdingt, dann als gefragter Hilfsarbeiter bei einer Bergbahngesellschaft beschäftigt wird, die Liebe seines Lebens für kurze Zeit genießen darf und sein Leben schließlich als skurriles Dorfunikum eremitenhaft in einer Felsenhöhle beenden muss.
Das „ganze Leben“, das der Autor Seethaler seinem Andreas Egger auf knappen 160 Seiten zuweist, komprimiert trotz der relativen Kürze des Romans Dramatik und Erfolg, Liebe und Unglück, Tod und Leben, Schönheit und Verderben in unvergesslichen Szenerien und Sätzen. Die Faszination der gewaltigen, den Menschen bestimmenden Natur wird ebenso wuchtig in Szene gesetzt wie deren tödliche Bedrohung, die zeitgenössisches Denken von heute fast nicht mehr zu erreichen vermag.
Auch die Liebe, die den alles andere als intellektuell verbrämten Andreas Egger wie durch Zufall ereilt, strotzt nur so von einer ursprünglichen Romantik, die in urbanen Internet-Zeiten kaum mehr bekannt sein dürfte. Umso tragischer das abrupte Ende von Eggers Glück, bei dem seine Marie durch die Urgewalt einer Lawine tödlich verschüttet wird. Die Liebe indes, die einzige seine „ganzen Lebens“, bleibt auch bis zu Eggers eigenem Tod bestehen.
Robert Seethaler belässt es jedoch in seinem Roman nicht nur bei der einfühlsamen Portraitierung seines Protagonisten und der Dorfbewohner, er schießt – nicht nur in Nebensätzen - kritisch gegen den immerwährenden Ausverkauf der Alpenregionen durch die Tourismusindustrie. Bildhaft, eindringlich und nachhaltig in des Lesers Hirn verankernd. So gelingt dem Autor nicht nur ein geniales Stück nachvollziehbarer Lebensgeschichte eines alpenländischen Dorfbewohners – auch ein Gutteil Zeit- und Gesellschaftskritik mischt sich zwischen die Buchdeckel und lässt den Leser – so die Hoffnung – beim nächsten Skiurlaub doch schon mal genauer hinschauen, wer da im jeweiligen Alpenweiler von der Wintersaison am meisten profitiert…!
Da Autor Seethaler jedoch kein wissenschaftliches Pamphlet beim Berliner Hanser-Verlag auf den Markt gebracht hat sondern einen Roman, darf man sich auch auf eine Sprache freuen, die dem Thema in allen Sätzen angepasst ist. Einfach, bilderreich und detailgenau schmiedet der gebürtige Wiener seine Kapitel und man wundert sich auf der letzten Seite, dass Seethaler derart packend auf wenigen Seiten bereits mehrere Jahrzehnte eines unvergesslichen Schicksals mitten in einem alpenländischen Bergdorf beschrieben hat. Nach Robert Walser muss ein deutschsprachiger Dichter das erst mal vormachen. Seethaler hat’s getan.
uba

Robert Seethaler:
„Ein ganzes Leben“
160 Seiten, gebunden
Hanser Verlag, Berlin
ISBN 978-3-446-24645-4

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Autor:

Udo Barth aus Bad Dürkheim

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