Soziale Ausgrenzung in der NS-Zeit und heute: Zeitzeuge arbeitet Pfälzer Familiengeschichte auf
Ludwigshafen.Alfons Ims wuchs im Brennpunkt Kalkofen in Kaiserslautern auf. Er studierte Mathematik, heiratete eine Mundenheimerin und arbeitete in der Entwicklungspolitik. Seit 2007 erforscht er die schicksalhaften Gründe für die Verarmung seiner Familie. Die Spur der Nachforschung führte ihn weit zurück ins Nazideutschland. Im Mundenheimer Jugendzentrum nimmt er am Dienstag, 4. Juni, mit auf eine Zeitreise.
Von Julia Glöckner
Wer heute das Wort „Assi“ ausspricht, nutzt die Terminologie der Nazizeit, aus der es stammt. Im dritten Reich wurden Menschen, die Wohlfahrtshilfe bekamen, etwa Suchtkranke oder Menschen ohne Ausbildung, streng beobachtet. Viele davon wurden im Sinne des „gesunden Volkskörpers“ nach der Rassenhygiene verfolgt. Sie landeten in Psychiatrien, wurden zwangssterilisiert oder im KZ zum Opfer der Euthanasie. Denn sie galten als „Gefahr für ihr umgebende Gemeinschaft und sollten in Bewahrung genommen werden“.Schon Alfons Ims Vater Heinrich hatte als Sohn eines Hilfsarbeiters nicht den besten Start. Sein Großvater hatte durch die Industrialisierung seinen Job als Schneider verloren. Es fehlte am Geld für die Ausbildung der Kinder. Ims Vater schlug sich nach der Volksschule mit Hilfsjobs durch, war oft arbeitslos. 1923 ließ er sich als Tagelöhner von der Pfälzer Unabhängigkeitsbewegungen gegen Bayern anwerben. „Das sollte ihm in der Nazizeit auf die Füße fallen“, erzählt Alfons Ims. Denn aus der Familie, die seit 1927 in großem Elend auf dem Engelshof in Kaiserslautern lebte, machten die Nazis Anfang der 30er einen Fall von moralischer Minderwertigkeit. 1933 waren die Nazis ins Stadthaus eingezogen.
Die Naziideologie kannte Grundwerte der heutigen Verfassung wie den der Gleichwertigkeit nicht. „Es gab die Herrenrasse und die Ballastexistenzen“, berichtet Ims. Er zitiert aus einem Dokument: „Kinderreiche Familien müssen auch erbtüchtig sein. Asoziale gelten hingegen niemals als kinderreich, sondern höchstens als asoziale Großfamilie“.
„Die erste Frau meines Vaters Anna wurde nicht wie andere Mütter mit sieben Kindern als Fruchtschoss des deutschen Reiches mit dem silbernen Ehrenkreuz geehrt. Sie galt als moralisch minderwertig. Mütter von erbkranken und asozialen Familien kamen für das Ehrenkreuz nicht in Frage“, erklärt Ims.
Nach seiner Geschichtsaufarbeitung geriet die Familie seit 1936 ins Visier von Polizei, Jugendamt und Schulbehörde. Ständige Kontrollen folgten, bei denen „zerlumpte Kleidung“, „Hygienemängel“ und „die schäbige Einrichtung“ protokolliert wurden. Die Mutter galt laut Akte als Hausfrau völlig unfähig, weshalb man die Kinder nach und nach aus der Familie nahm. Aus dem Briefwechsel der Ämter mit Justiz und Volkswohlfahrt geht hervor, dass das Gericht den Grund für Misere in Armut sah und Sozialleistungen für Familie forderte. Doch die Polizei sprach der Familie das Recht auf Sozialhilfe ab. Der Vater war Separatist gewesen, die Eheleute galten als moralisch minderwertig. „Christliche Werte des Helfens sollten im dritten Reich nicht länger institutionalisiert bleiben. Sozialpolitik widersprach nach der Naziideologie der natürlichen Selektion von wertvollem und unwertem Leben. Für die Nazis waren die sozialen Probleme und die Arbeitslosigkeit des Vaters Ausdruck der minderwertigen Erbanlagen. Die Armut war für sie Folge, nicht Ursache.“
Die damaligen Erziehungsheime siebten Kinder aus asozialen Familien rassenhygienisch: Entweder sie machten eine aus ihrer Sicht normale Entwicklung, besuchten die Schule und fielen nicht auf, die Schicksalskorrektur gelang also – oder sie fielen unter das Stigma der angeborenen Schwachsinnigkeit. „Schwachsinnige“ kamen in Heilanstalten oder wurden Opfer der Euthanasie. „Meine beiden älteren Brüder, Zwillinge, entkamen nur knapp der Euthanasie durch die Bombardierung Frankenthals 1942, wo sie in einer Heilanstalt lebten. Eine Euthanasiezwischenanstalt war für sie bereits im Gespräch“, so Ims.
1939 war die Familie vom Engelshof ins Elendsviertel Kalkofen umgesiedelt worden, wie alle ehemaligen Separatisten. Alfons Ims kam 1949 als jüngster Sohn der zweiten Frau des Vaters zur Welt. Die erste Frau war kurz vor Kriegsende 1943 gestorben. Seine Mutter sollte bis 1951 gegen teils naziverkrustete Strukturen kämpfen, um die beiden letzten der neun Kinder wieder nach Hause zu holen. „Weil die Zwillinge mit zwei Jahren in Obhut kamen, hätte man annehmen müssen, dass in ihrem Fall die Chancen auf Schicksalskorrektur am größten waren. Sie kamen laut Akte als fürsorglich erzogene, aber unerziehbare Analphabeten zurück“, bilanziert Ims.
Seine Familienbiografie richtet sich gegen das Verdrängen, im eigenen Familienkreis sowie in der Gesellschaft. Über seine Motive für die Aufarbeitung sagt Alfons Ims Folgendes:
Durchs „vergessen Wollen“ schafft man Freiraum für menschenverachtendes Denken über ungleiche Wertigkeit. Trotz der Kampagne „Nie wieder ist jetzt“ gilt für Menschen, die man heute als „Asoziale“ bezeichnet, das Stigma der verminderten Leistungsfähigkeit und ökonomischen Nutzlosigkeit.
Fraktionsvorsitzende in den Ostländern sprechen heute davon, dass die „deutsche Kultur unter Befall von Parasiten“ ist und fordern, mit „wohltemperierter Grausamkeit den Stall ausmisten“. Dieselbe Partei will die Erbschafts- und Vermögenssteuer abschaffen sowie die Deckelung von Mietpreisen und spricht sich gegen die Erhöhung des Mindestlohns aus. Bürgergeld für Langzeitarbeitslose soll es nur gegen Arbeitsverpflichtung geben.
Die Grundprinzipien unserer Verfassung sind Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Dies sind Leitplanken für den Umgang mit Schwachen und Benachteiligten. An diese Werte will ich erinnern, diese Werte gilt es zu verteidigen.
Weitere Informationen:
Alfons Ims Buch „Eine asoziale Pfälzer Familie“ ist im Buchhandel zu haben jg
Autor:Julia Glöckner aus Ludwigshafen |
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