Stolpersteine für Speyer
Jeder Stein steht für einen verfolgten Menschen

Lina und Theodor Heymann mit ihren Töchtern Flora und Ruth, Anfang der 1930er Jahre | Foto: privat
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  • Lina und Theodor Heymann mit ihren Töchtern Flora und Ruth, Anfang der 1930er Jahre
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Speyer. Auch in diesem Jahr werden in Speyer wieder Stolpersteine verlegt. Am Donnerstag, 21. September, beginnt die Aktion, die auf von den Nazis verfolgte Speyererinnen und Speyerer aufmerksam machen soll, um 10.30 Uhr mit einem Empfang der Stadt im Historischen Rathaus. An den Empfang schließt sich etwa um 11.30 Uhr die inzwischen sechste Verlegung von Erinnerungssteinen an. Stolpersteine sind ein Projekt des Künstlers Gunter Demnig.

Er erinnert mit ihnen an Menschen, die während der NS-Zeit verfolgt, inhaftiert, deportiert, vertrieben, zum Selbstmord gezwungen oder ermordet wurden. Die Stolpersteine werden vor dem letzten selbstgewählten Wohnort der Verfolgten in den Bürgersteig eingelassen. Jeder Stein steht für einen Namen. Für einen Menschen. Zunächst werden in der Maximilianstraße 15 Steine für Karl Hirsch, seine Frau Franziska Hirsch, geborene Blumenthal und ihre Kinder Ernst und Ilse verlegt.

Franziska und Karl Hirsch mit Ernst und Ilse

Das „Erste Spezialhaus für Damen- und Kinderkonfektion“ im Haus Maximilianstraße 15 war allseits angesehen in Speyer und für seine Qualitätsware bekannt. Franziska Blumenthal, geboren 1879,  ist aus Limburg an der Lahn hierhergezogen und wohnt zunächst in der Flachsgasse 8. Eröffnet wurde das Geschäft im November 1907 unter dem Namen „Geschwister Blumenthal“, nur  dass es in Speyer gar keine Geschwister Blumenthal gab.

Im März 1908 kommt der gleichaltrige Karl Meyer Hirsch von Stettin nach Speyer und beginnt in dem Geschäft zu arbeiten. 1912 heiraten Franziska und Karl und beziehen das jetzige Wohn- und Geschäftshaus. Das Paar führt nun sein Spezialhaus gemeinsam. Sie bekommen zwei Kinder: Ernst kommt 1915 zur Welt, Ilse 1919. Im Jahr 1919 können die Hirschs das Anwesen für 112.000 Mark erwerben. Wie fast alle erwachsenen männlichen Speyerer Juden kommt Karl Hirsch nach den Novemberpogromen 1938 für mehrere Wochen in "Schutzhaft" ins Konzentrationslager nach Dachau. Nach seiner Rückkehr ist er weiterhin in der jüdischen Gemeinde aktiv; er arbeitet später auch in der Mitte 1939 gegründeten Zwangs- und Dachinstitution „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“.

Vermutlich deshalb wird das Ehepaar nicht wie der überwiegende Teil der jüdischen Speyerer Restgemeinde am 22. Oktober 1940 nach Gurs deportiert, sondern darf wie fünf andere Speyerer Juden weiter in Speyer leben. Das Haus des Ehepaars allerdings wird zwangsversteigert, es geht mit Gerichtsbeschluss vom 5. März 1940 an ein Speyerer Kaufmannsehepaar. Anfang August des selben Jahres müssen sie das Haus räumen und ziehen in die Maximilianstraße 31 um. Dieses Haus war ursprünglich Eigentum der im Herbst 1936 emigrierten anderen Hirsch-Familie, zu der jedoch keine verwandtschaftlichen Verhältnisse bestehen.

Am 28. Mai 1942 werden Karl und Franziska gezwungen, ein zweites Mal die Wohnung zu wechseln, diesmal in die Wormser Straße 26. Nur zwei Monate später werden sie mit den letzten Speyerer Juden nach Theresienstadt deportiert. Ein letztes Lebenszeichen des Ehepaars Hirsch erhält ihre langjährige Hausangestellte Charlotte Antes im August 1943. Die 65-jährige Franziska Hirsch stirbt in Theresienstadt am 12. Juni 1944. Ihr Mann wird am 9. Oktober des selben Jahres nach Auschwitz deportiert und ermordet. Die Kinder überleben: Ilse war am 6. Dezember 1938, also wenige Wochen nach dem Synagogenbrand, nach Detroit in die USA geflohen; dort verliert sich ihre Spur im Herbst 1951.

Ihr vier Jahre älteren Bruder Ernst flieht bereits im November 1937 nach Detroit. Der kaufmännische Angestellte nennt sich dort Ernest, heiratet und hat Kinder. Im Zweiten Weltkrieg dient er drei Jahre im Pazifik. Bereits Ende Mai 1945 beginnt er nach seinen Eltern zu forschen, später strengt er zusammen mit seiner Schwester einen Restitutionsprozess an, worauf ihnen im September 1951 eine Entschädigung in Höhe von 20.000 Mark zugesprochen wird. Ernest Hirsch stirbt 1994 und wird auf dem jüdischen Friedhof in Livonia, Michigan, beigesetzt.

Käthe, Paul und Hedwig Moritz

Vor der Maximilianstraße 21 werden Stolpersteine für das Ehepaar Paul und Käthe Moritz, geborene Neu, sowie für Pauls Schwester Hedwig Moritz verlegt. Als der Kaufmann Paul Moritz, geboren 1883, sein Wohn- und Geschäftsanwesen in der Maximilianstraße 21 Mitte 1935 verkaufen muss, ist es seit einem halben Jahrhundert in Familienbesitz: Die Familie Moritz gehört zu den frühesten Mitgliedern der Speyerer jüdischen Gemeinde, zurückzuverfolgen bis zu der aus Rheingönheim stammenden Gertrud Moritz (1792 bis 1862). Einer ihrer Söhne, Rafael (1813-1905) führt mit einem seiner Söhne, Heinrich (1846-1932), zunächst ein Geschäft im Haus Wormser Straße 50.

Mitte 1884 erwirbt Heinrich das Wohn- und Geschäftsanwesen Maximilianstraße 21. Hier, an der Ecke zur Schustergasse, führt er mit seiner Frau Emma Mandel ein Kurz-, Weiß- und Modewarengeschäft. Von ihren sieben Kindern bleiben zwei in Speyer: die 1887 geborene Hedwig und der vier Jahre ältere Paul. Dieser führt mit seiner Ehefrau Käthe Neu seit dem Wegzug des Vaters 1910 nach Frankfurt am Main das Geschäft weiter. Die ledige Schwester Hedwig arbeitet im Geschäft mit.

Am 28. März 1935 verkauft Paul das Anwesen für 65.000 Reichsmark an eine in Ludwigshafen lebende Witwe. Drei Monate später zieht das Ehepaar Moritz für kurze Zeit nach Frankfurt, endgültig dann im November. Trotz einer Gewerbeanmeldung dort (1935 bis 1936) sind dies alles Vorbereitungen zur Flucht: Im März 1934 hatten beide sich Reisepässe ausstellen lassen. Im Dezember 1935 trifft sie der Tod ihres einzigen Sohnes Theodor schwer; ein weiterer Schlag folgt im Januar 1937 mit den Selbstmorden von Mathilde Moritz, der Witwe von Pauls Onkel, und ihres Stiefsohns Georg.

1937 gelingt es Paul und Käthe, damals bereits schwer zu beschaffende Auswanderungspapiere zu bekommen, die dann jedoch von der Geheimen Staatspolizei eingezogen werden. Alle Versuche, die rettenden Dokumente im US-Konsulat in Stuttgart zurückzuerhalten, scheitern. In dieser ausweglosen Situation geht das Ehepaar am 18. August 1937 im nahegelegenen Neuen See gemeinsam in den Tod. Am 20. Oktober 1941 wird Pauls Schwester Hedwig von Frankfurt aus in das Ghetto Lodz deportiert. Sie stirbt entweder dort oder wird, wie fast alle Bewohner dieses Ghettos, in das Vernichtungslager Chelmno im heutigen Polen deportiert.

Johanna und Maximilian Cramer mit Grete Frank

In unmittelbarer Nachbarschaft zu Familie Moritz, in der Maximilianstraße 22 nämlich, lebten Maximilian Cramer, seine Frau Johanna Cramer, geborene Hirsch, und ihre Tochter Grete Frank, geborene Cramer. Auch für diese Familie werden Stolpersteine verlegt. Maximilian Cramer wird 1869 als zweites von fünf Kindern in Speyer geboren. Die Eltern Salomon und Carolina Cramer betreiben in der Maximilianstraße 22 seit vielen Jahren ein Geschäft für Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, das er als ältester Sohn im Alter von 27 Jahren übernimmt.

Im selben Jahr heiratet er die sechs Jahre jüngere Johanna Hirsch aus Frankenthal. Sie bekommen drei Kinder: zwei Söhne, 1901 Fritz und 1902 Hans sowie 1914 eine Tochter: Grete. 1908 modernisiert Maximilian Cramer das Wohn- und Geschäftshaus, in dem er mit seiner Familie lebt und arbeitet. Die Familie besitzt ein weiteres Wohnhaus in der Landauer Straße und ein großes Gartengrundstück im Neuland. Im Ersten Weltkrieg dient Maximilian als Leutnant und wird mit einem militärischen Orden ausgezeichnet. Er ist in die Speyerer Gesellschaft integriert, Mitglied der Feuerwehr, Schöffe am Gericht und Teil des Industrie- und Handelsgremiums. Er wird in den Synagogen-Ausschuss der jüdischen Gemeinde gewählt.

Aufgrund der nationalsozialistischen Repressalien für jüdische Geschäftsinhaber plant Maximilian Cramer die Auswanderung, stirbt jedoch nach einer Operation im Mai 1938 im jüdischen Krankenhaus in Mannheim und wird auf dem Speyerer Friedhof bestattet.
Seine Witwe Johanna muss im Zuge der Arisierung am 11. August 1938 das Wohn- und Geschäftsanwesen Maximilianstraße 22 für 50.000 Reichsmark verkaufen. Das Gartengrundstück verkauft Johanna für wenig Geld an einen Kraftfahrer und seine Frau. Am 3. November des selben Jahres erklärt sie die Firma „S. Cramer jr.“ für erloschen.

Das Wohnhaus Landauer Straße 41 wird unter Zwang am 11. Januar 1939 an die Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft veräußert, die es an ein Bäckerehepaar weiterverkauft. Johanna Cramer selbst muss nach Heidelberg umziehen. Da sie bereits Ausreisepapiere besitzt, entgeht sie der Deportation nach Gurs. Ihr gelingt 1941 die Flucht in die USA zu ihrer Tochter. Sie lebt bis zu ihrem Tod 1965 in New York. Johanna Cramer führt in den1950er Jahren mehrere Restitutionsprozesse, die Familie wird aber für ihre Verluste an Haus- und Grundbesitz nur teilweise entschädigt.

Tochter Grete gelingt die Flucht in die USA bereits 1936, sie heiratet 1939 in New York den Frankfurter Lehrer Jakob Frank. Das Paar bekommt zwei Kinder und vier Enkel. Grete äußerte in einem Brief im Alter den Wunsch, noch einmal nach Speyer und Deutschland in das Land zurückzukehren, das sie „unter schrecklichen Umständen vertrieben hat“, kann es jedoch nicht realisieren. Sie lebt bis ins neue Jahrtausend im US-Bundesstaat Michigan.

Liselotte und Fritz Cramer

Fritz Cramer wird 1901 als ältester Sohn von Maximilian und Johanna Cramer in Speyer geboren. Fritz studiert nach verschiedenen Ausbildungen zunächst Chemie in Reutlingen und Mainz, arbeitet dann aber im elterlichen Geschäft als Prokurist. Seit 1935 ist er mit der Mannheimer Hutmacherin Liselotte Löb verheiratet, das Paar wohnt im Haus Landauer Straße 41. Fritz wird nach den November-Pogromen 1938, wie tausende andere männliche Juden, für mehrere Wochen im Konzentrationslager Dachau in sogenannte “Schutzhaft“ genommen. Kurz nach seiner Entlassung gelingt ihm mit seiner Frau Liselotte Ende des Jahres die Flucht nach Argentinien. Das Paar bleibt kinderlos und kehrt nach dem Krieg nach Deutschland zurück. Von 1978 an bis zu Fritz’ Tod 1982 leben sie gemeinsam im nordbayerischen Bad Kissingen. 1999 wird Liselotte Cramer neben ihrem Mann auf dem dortigen jüdischen Friedhof bestattet. Für das Ehepaar werden Stolpersteine in der Landauer Straße 41 verlegt. Anschließend spricht ein Vertreter der jüdischen Gemeinde ein Gebet.

Flora und Ruth Heymann mit einer Freundin, um 1930 | Foto: privat
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Lina und Theodor Heymann mit Flora und Ruth

In der Kämmerer Straße 32a, Ecke Paulstraße werden Stolpersteine verlegt für Theodor Heymann, seine Frau Lina Heymann, geborene Adler, sowie für ihre Töchter Flora und Ruth. Theodor Heymann war Textilkaufmann; er wohnt zunächst in der Paulstraße, im Mai 1922 zieht er in das Anwesen Kämmererstraße 32a, das er wenige Monate zuvor erworben hat. Sein dortiges Geschäft firmiert unter „Putz- und Modewarenfabrikation und Taschentücher en gros“. Als Prokuristin ist Lina Heymann eingetragen, die seit April 1914 mit Theodor verheiratet ist. Sie haben zwei Töchter: Flora wird 1915 geboren, Ruth 1921.

Theodor stirbt im September 1935 in Mannheim und wird in Speyer beerdigt. Er hat die Bedrohungen durch die Nationalsozialisten noch zu spüren bekommen und musste den Boykott jüdischer Geschäfte miterleben. Seine Witwe Lina und Tochter Ruth erreichen am 30. Oktober 1936 mit dem Schiff „SS Manhattan“ New York. Die Weiterfahrt geht nach Chicago, wo die ältere Tochter Flora auf Mutter und Schwester wartet. Sie war schon 1934 in Chicago eingetroffen. Laut Aussage von Linas Enkel, Ron Guinsburg, finden seine Mutter Ruth und seine Tante Flora dort Arbeit in einem sehr bekannten Feinkostgeschäft. Lina Heymann lebt bis zu ihrem Tod 1974 in Chicago. Ruth stirbt 2011 und hinterlässt einen Sohn und drei Enkel. Ihre Schwester Flora heiratet zwei Mal und stirbt 2009 kinderlos.

Emma Kolbinger aus Speyer arbeitete als Buchhalterin in der Firma Heymann. Sie hatte ein sehr gutes Verhältnis zur Familie. Aus den USA erhielt sie mehrere Briefe. So schildert ihre ehemalige Chefin im Januar 1947: “Wir sind soweit wohlauf, arbeiten täglich acht Stunden und haben unser Auskommen. Wir sind zufrieden. So viel liegt dazwischen! Beide Töchter sind verheiratet und Ruth hat einen Jungen von drei Jahren. Von unserer nächsten Verwandtschaft sind über 30 Männer, Frauen und Kinder von der Hitlerbande umgebracht worden. Wären Sie so freundlich, nach dem Grab meines Mannes in Speyer zu sehen. Ich hörte indirekt vom Bürgermeisteramt, dass der Friedhof nicht beschädigt wurde. Gerne möchte ich Ihnen eine Freude bereiten und ein Paket schicken. Anbei die aufgelisteten Artikel." Auf der Liste stehen zwei getragene Kleider, eine getragene Bluse, eine Kanne - gemeint ist eine Dose -  Kaffee, eine Kanne Fett, eine Kanne "Chocoladepulver", drei  kleine Milch, drei kleine Fleisch, eine Tafel Schokolade, zwei Päckchen "Cigaretten".

Die Biografien werden von Schülerinnen und Schülern der Burgfeld-Realschule plus, des Edith-Stein-Gymnasiums und des Gymnasiums am Kaiserdom verlesen. Begleitet werden die Schülerinnen und Schüler von ihren Lehrerinnen Jutta Große, Annette Meuser und Kerstin Gerber. In der Initiative Stolpersteine engagieren sich derzeit Cornelia Benz, Sandra Böhm, Katrin Hopstock, Jutta Hornung, Ingrid Kolbinger und Kerstin Scholl.

Weitere Informationen

www.stolpersteine-speyer.com

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Lina und Theodor Heymann mit ihren Töchtern Flora und Ruth, Anfang der 1930er Jahre | Foto: privat
Flora und Ruth Heymann mit einer Freundin, um 1930 | Foto: privat
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Cornelia Bauer aus Speyer

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