Mit Fischersfrau Christine und Reichsgräfin Sibylla durch die Zeit reisen
Speyer. Wenn Kerstin Scholl in ihr Gewand schlüpft, dann ist sie nicht länger eine Lehrerin im Speyer des 21. Jahrhunderts, dann wird sie ganz und gar zu Christine, einer Fischersfrau im Jahr 1530. Sogar ihre Sprache ändert sich dann: "Christine spricht viel mehr Pfälzisch als Kerstin", schmunzelt Scholl, als sie von ihrem Alter Ego erzählt. Die Figur ist das Ergebnis einer Fortbildung, die die Stadtführerin 2016 gemacht hat. Weil es in Speyer auch Führungen in historischen Gewändern geben sollte, entwickelte Scholl im Rahmen dieser Weiterbildung die Biografie von Christine.
Christines Mann ist Schiffsbauer - wie der von Kerstin Scholl. Wenn Christine ihre Gäste in Empfang nimmt, dann spinnt sie die Geschichte, dass deren Schiff kaputt sei. Und während ihr Mann es repariert, zeigt die Fischersfrau mal eben "ihr" Speyer. Ein Speyer ein Jahr nach dem Reichstag, das noch ganz unter dem Eindruck steht, dass es da jetzt einen neuen Glauben gibt. Einen, der es nicht länger erforderlich macht, dass Christine Geld für einen Ablass spart. Kerstin Scholl hat den groben Rahmen ihrer Gewandführung abgesteckt, aber vieles hängt davon ab, ob und wie sehr sich die Gäste auf sie als historische Figur einlassen.
Es geht um Geschichte, natürlich. Aber es geht noch viel mehr um Geschichten und ums Geschichtenerzählen. "Historisches Wissen wird in den Gewandführungen eher spielerisch vermittelt; das ist ein anderer Ansatz", sagt Kerstin Scholl. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer werden viel mehr eingebunden als das bei einer "normalen" Stadtführung der Fall ist. "Die Gewandführung lebt auch von der Interaktion", sagt Scholl. Wenn eine Gruppe richtig mitspielt und zum Beispiel ihre Handys wegsteckt, weil die nicht in die Zeit passen, dann entstehe eine ganz besonders Atmosphäre. Auf viele Fragen, die man Christine stellen könnte, hat sie sich vorbereitet. Zum Beispiel, warum sie für eine Fischersfrau des Mittelalters so gebildet ist. (Ihr Großvater hat ihr an langen Winterabenden viel über die Geschichte der Stadt erzählt.)
Begegnen ihr in der Jetzt-Zeit Dinge, die es im Mittelalter noch nicht gab, dann behilft sie sich mit "Barbara", einer befreundeten Seherin, die exakt vorhergesehen hat, dass an dieser Stelle einmal eine Kirche stehen wird. Oder dass diese seltsamen Kutschen ohne Pferde durch Speyer fahren werden. Eine Kristallkugel ist es, die Reichsgräfin Sibylla alias Stadtführerin Birgit Nagel durch die Zeit schleudert. Immer dann, wenn sie dem Herrn Fugger aus Augsburg lästig zu werden droht, steckt er ihr diese Kugel in die Tasche - und sie landet wann-anders.
Aus "seinerzeit" wird "meinerzeit"
Eben jener Herr Fugger hat Sibylla nach Speyer geschickt, wo sie 1495 als Mätresse von Kaiser Maximilian auf diesen aufpassen soll. Jakob Fugger war der Hausbankier von Maximilian I. und ermöglichte ihm als solcher seinen prunkvollen Lebensstil, finanzierte aber auch militärische Feldzüge und Kriege. Da der Kaiser mit seinem Schuldendienst kaum nachkam, erlangte Jakob Fugger jede Menge Einfluss auf die europäische Politik. Sibylla wohnt in Speyer, reist aber mit Maximilian umher. "Ich wollte eine Figur, die aus dem Rahmen fällt - und manchmal auch aus der Rolle", erklärt Birgit Nagel. Aufgrund ihrer Nähe zum Kaiser verfügt sie über jede Menge Insiderwissen - und hat als "Königin der Nacht" ganz andere Probleme als Fischersfrau Christine. Intrigen im Umfeld des Kaisers etwa. Und natürlich ihr Kleidergeld.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisen durch die Zeit, landen in einem früheren Speyer und damit in einer ganz anderen Stadt. In einem Speyer, in dem Dreck und Unrat auf unbefestigten Straßen liegen und es abscheulich stinkt. Ein Speyer, in dem sich dennoch das Leben von Mensch und Tier auf der Straße abspielt, denn die Häuser sind zu klein und zu eng für die großen Familien. Es ist ein Speyer, das von einer Stadtmauer eingeschlossen ist, deren Stadttore sich für die Nacht schließen, um Räuber und marodierende Banden draußen zu halten. Ein Speyer, in dem es nachts stockfinster ist, weil es noch keine Straßenbeleuchtung gibt. Und in dem man vor einer Reichsgräfin knickst. Wer sich auf die Zeitreise einlässt, für den wird aus "seinerzeit" für die Dauer der Führung "meinerzeit".
Weitere Informationen
Rund ein Dutzend Stadtführer bieten in Speyer Führungen in historischem Gewand an, auch eine Marktfrau, ein Kleriker, eine Magd und die Frau des Bürgermeisters begleiten Gäste ins mittelalterliche Speyer. Seit diesem Jahr gibt es einmal im Monat eine öffentliche Kostümführung, so dass auch Einheimische und Einzelpersonen durch die Zeit reisen und ein früheres Speyer kennen lernen können. Wer die jeweilige Führung macht, bleibt eine Überraschung.
In ihrem ersten Jahr waren die öffentlichen Führungen so erfolgreich, dass bereits jetzt feststeht, dass sie 2025 fortgeführt werden. Sie finden von April bis Oktober am zweiten und - gegebenenfalls - fünften Freitag jeden Monats statt, dauern etwa anderthalb Stunden und sind ein Angebot der Tourist-Info; dort gibt es auch die Tickets.
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