Mit jeder Faser des Seins
Turandot Premiere in Mannheim

Rosengarten Mannheim | Foto: Marko Cirkovic
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In den kühlen Hallen des Mannheimer Rosengarten, wo die Magie der Musik die Macht des Wortes übertrifft, entfaltet sich ein wahrhaftiges Klangdrama, ein Feuerwerk der Emotionen, in der konzertanten Aufführung von Giacomo Puccinis „Turandot“. Unter der kundigen musikalischen Leitung von Roberto Rizzi Brignoli, einem Meister des italienischen Repertoires, erlebte ich eine Aufführung, die nicht nur die Seele, sondern auch das Verständnis für Opernkunst berührt und herausfordert.

Von Beginn an ist die Spannung im Saal spürbar, fast greifbar, als die ersten einstimmenden Töne des Orchesters den Raum erfüllen, eine der ersten Geigen noch schnell auf ihren leer gebliebenen Stuhl huscht und sich in die einstimmende Masse des Orchesters einreiht. Es ist Premierenabend.

Unter der Führung des neuen Generalmusikdirektors Roberto Rizzi Brignoli, schlägt das Nationaltheater-Orchester Töne an, die nicht nur präzise und technisch meisterhaft sind, sondern auch eine emotionale Weite offenbaren, die selten in solcher Klarheit zu erleben ist. Mit der Bravour eines Alchemisten, der seine Ingredienzien zu einem Zaubertrank mischt, beschwört Rizzi Brignoli aus dem Orchester und dem Chor eine musikalische Magie herauf, die sich in brillanten Tempi und in kantigen, aber durchdringend nuancierten Momenten manifestiert.

Der Klangkörper des Orchesters erwacht in einem crescendo des Verlangens, in einer orchestralen Anspannung, die in ihrer erhabenen Dringlichkeit alles zu verschlingen scheint. Es ist als würden die Saiten flüstern, das Holz seufzen und die Bläser die Geschichten längst vergangener Zeiten in den Raum malen.

Das Orchester selbst wird unter Brignolis Zauberstab zu einem atmenden Wesen. Es murmelt, es flüstert, es tobt und es weint. Es ist, als würden die Musiker auf einer Palette von Emotionen malen, mit jedem Pinselstrich eine neue Schicht der Geschichte auftragend. Der Chor, ein gigantisches Meer von Stimmen, bricht über die Zuhörerschaft herein wie eine Welle der Verzweiflung und Hoffnung, die uns unwiderstehlich in die Tiefe des dramatischen Geschehens zieht.

Brignoli, mit einer Hand, die zu wissen schien, wie man die Schönheit aus jedem einzelnen Notenblatt herauskitzelt, schuf eine Atmosphäre, in der jede Note, jedes Crescendo und Diminuendo, wie das lebendige Atmen der Musik selbst wirkte.

Die konzertante Aufführung, eine Form, die sich der visuellen Pracht entledigt und sich auf das rein Akustische besinnt, bot dem Zuhörer die Möglichkeit, in die Komposition einzutauchen, als wäre es ein Bad in einem reinen, ungestörten See. Die Musik – frei von jeder Bühnenillusion – forderte die Vorstellungskraft heraus, die Szenen in den Gedanken des Publikums lebendig werden zu lassen.

Ricardo Tamura, der in der Rolle des Calàf eine kurzfristige Besetzung war, trat mit einem Timbre auf, das dunkel und doch durchdringend war – eine Stimme, die Geschichten aus alten Zeiten zu erzählen schien. Sein "Non piangere, Liù" begann mit einer drängenden Intensität, die sich in eine scheinbar endlose Melancholie verlangsamte, um sich dann zum Finale des ersten Aktes hin zu beschleunigen. Hier zeigte Tamura nicht nur seine ästhetische Feinfühligkeit, sondern auch ein Verständnis für die Komplexität und die Schönheit der schwindenden Momente in Puccinis Partitur.

Er zeigte eine ästhetische Brillanz, doch fehlte es ihm bisweilen an der nötigen Kraft, um sich vollends gegen das monumentale Orchester durchzusetzen. Trotzdem ist seine Darbietung respektabel, besonders wenn man bedenkt, dass er erst vor wenigen Tagen eingesprungen ist.

Maida Hundeling als Turandot bringt eine andere Facette in diese Opernlandschaft. Ihr Sopran, etwas zu dunkel und schrill in den Höhen, mag vielleicht nicht die perfekte stimmliche Besetzung sein, doch sie füllt die Rolle mit einer Präsenz aus, die der Figur der rachsüchtigen Prinzessin mehr als gerecht wird. Im Zusammenspiel mit Calaf entsteht ein ungleiches Paar, dessen Interaktionen im zweiten Akt, besonders im fortissimo, eine spürbare Spannung erzeugen.

Sung Ha, in der Rolle des Timur, entfaltete eine Präsenz auf der Bühne, die trotz der wenigen Linien, die Puccini dem exilierten Tartarenkönig zugesteht, eine unauslöschliche Wirkung hinterließ. Mit einer Stimme, die in ihrer Tiefe und ihrem Volumen einem Echolot gleichkam, vermochte er es, die Gestalt des gebeugten Monarchen mit einer solchen Intensität und Würde zu erfüllen, dass jedes Wort, jede Note von Timurs Schmerz und Hoffnung durchdrungen schien. Der Bass von Sung Ha, durchdringend und resonant, trug weit über die Grenzen des Saals hinaus und erzeugte eine Atmosphäre, die den Zuhörer sofort in den Bann zog. Es war eine Darbietung von seltener Eindringlichkeit, die die tiefe Verzweiflung und zugleich die stoische Akzeptanz seines Schicksals verkörperte. In seinen Momenten auf der Bühne manifestierte sich ein musikalisches Gewicht, das den emotionalen Grundton des Werkes mitdefinierte und eine empathische Brücke zum Publikum baute.

Besonders bemerkenswert war die Art und Weise, wie Sung Ha es verstand, die subtilen Nuancen seines Parts auszuschöpfen und ihnen Leben einzuhauchen. Jedes Lamento, jede Erinnerung Timurs an seine vergangene Größe wurde mit einer solchen Authentizität gesungen, dass es schwerfiel zu glauben, man lausche einem Sänger und nicht den echten Klagen eines entthronten Vaters. Dieses Talent, kleine Rollen groß wirken zu lassen, zeugte von Ha's meisterhafter Technik und seinem tiefen Verständnis für die Figur. Selbst in den scheinbar ruhigen Momenten, in denen er nur dem Geschehen beiwohnte, verlor sein Timur nie an Präsenz; seine stille Trauer war so greifbar, dass sie einen bleibenden Eindruck hinterließ und der Figur eine Dimension verlieh, die über die Worte der Partitur hinausging. Sung Ha's Leistung war somit nicht nur gesanglich phänomenal, sondern auch ein Triumph des darstellerischen Ausdrucks.

Der Chor, insbesondere während des Auftritts des Kaisers, ist schlichtweg monumental. Das Orchester, das aus der Tiefe brodelt, schafft eine Atmosphäre, die fast greifbar ist. Der sakrale Moment nach dem Rätselraten des Calàf, in dem sich Chor und Orchester in absoluter Hochform präsentieren, ist ein Beleg für die meisterhafte Führung durch Rizzi Brignoli.

Die reiche Textur des dritten Aktes von "Turandot" erscheint mir wie ein sanftes Einlullen in einen Traumzustand, wo die musikalischen Linien und Harmonien einander umtanzen und schließlich in Einklang kommen. Diese Verflechtung von Orchester und Gesang, unter der akribischen Führung offenbarte eine exquisite Symbiose, die jedoch, zu meinem Bedauern, zu Beginn der Aufführung nicht präsent war. In den ersten beiden Akten schien Brignoli die Sänger neben dem Orchester fast zu überhören, eine Herausforderung, die zu einer fühlbaren Dissonanz führte. Ihre Stimmen mussten sich gegen die robusten Wellen der instrumentalen Macht behaupten, was die Sänger bis an die Grenzen ihrer Kapazitäten trieb.

Im dritten Akt jedoch wandelte sich dieses Muster zu einer Harmonie, die ich mir von Beginn an gewünscht hätte. Die Dynamik zwischen den Sängern und dem Orchester fand endlich eine Balance, die den Akteuren erlaubte, ihre Rollen voll auszufüllen und die emotionale Tiefe der Charaktere mit größerer Klarheit zu vermitteln. Die Musik wurde zum empathischen Echo der menschlichen Stimme, zum Spiegel der inneren Welten von Calaf und Turandot. Der Dirigent und sein Orchester schienen nun in vollständiger Bewusstheit über die Notwendigkeit einer Partnerschaft zu agieren, die die gesanglichen Linien nicht nur leitet, sondern mit ihnen eine Einheit bildet, die über die bloße Zusammenführung von Noten hinausgeht.

Die anfängliche Vernachlässigung der Sänger hat, wie ich finde, den ersten beiden Akten eine gewisse Tiefe genommen, die für das dramatische Verständnis essentiell ist. Erst als die Stimmen in den Vordergrund rückten und von dem wohlüberlegten und sensiblen Spiel des Orchesters gestützt wurden, konnte ich das volle Ausmaß von Puccinis genialer Komposition erfassen. Diese Verspätung in der musikalischen Kohärenz markierte einen Wendepunkt in der Aufführung – einen Moment, in dem die Sänger nicht mehr nur Teil des Ensembles waren, sondern zu wahren Protagonisten ihrer eigenen Geschichten wurden, unterstützt durch ein Orchester, das endlich den Raum gab, den ihre Stimmen verdienten.

Seunghee Kho als Liù, eine Sklavin, deren unaufdringliche Liebe zu Calaf die Essenz ihrer Existenz ist, bringt eine Darbietung, die den Saal in eine ergriffene Stille hüllt. In ihrem stillen Ende, wo Liù's Leidenschaft und Treue schließlich in einem Akt selbstloser Aufopferung gipfeln, erreicht Kho eine emotionale Intensität, die unter die Haut geht. Ihre Stimme, anmutig und doch durchdrungen von einer kraftvollen Verletzlichkeit, malt jedes Wort mit schmerzhafter Schönheit. Mit jeder Phrase, die sie singt, fühlt man die Resonanz ihres Opfers, das so still und doch so gewaltig ist, dass es den Atem stocken lässt. Es ist ein Moment der Oper, in dem die Musik und die Stille zwischen den Noten eine Sprache sprechen, die jeder im Raum fühlen kann, und Kho navigiert durch dieses schmale Band zwischen Gesang und Schweigen mit einer meisterhaften Anmut.

In diesem Rollendebüt zeigt Seunghee Kho, was es bedeutet, sich einer Rolle mit jeder Faser des Seins zu widmen. Ihr "Tu che di gel sei cinta" ist mehr als nur eine Arie; es ist ein Abschiedsbrief, eine Hymne an die Liebe, die über den Tod hinaus Bestand hat. Mit jedem Ton, den sie in die Weiten des Theaters entsendet, schafft sie es, die Fragilität und die endlose Güte Liùs zu enthüllen. Ihre Performance ist nicht einfach eine Vorstellung; sie ist ein Ereignis, das den Zuhörer in die tiefsten Abgründe der menschlichen Emotion führt und gleichzeitig eine fast überirdische Schönheit offenbart. Die Art und Weise, wie ihre Stimme mit dem Orchester verschmilzt, hebt Liùs Charakter auf eine Ebene, die weit über das Libretto hinausgeht – sie wird zu einem lebendigen Atemzug der Oper selbst.

Als der letzte Ton von Liùs Stimme verhallt, fühle ich eine Leere, die zugleich erfüllt ist von der Süße ihres letzten Opfers. Seunghee Kho hat mit ihrer Darstellung nicht nur die Erwartungen übertroffen, sondern eine Marke gesetzt, an der sich zukünftige Interpretationen messen müssen. Die Stille, die ihr folgt, ist nicht einfach ein Fehlen von Klang – sie ist das Echo des Herzens, das nachklingt, wenn die Musik längst verstummt ist. Ich fühle mich, als würde ich fliegen, in Träume versetzt, so tief und real, dass die Grenzen zwischen Bühne und Wirklichkeit zu verblassen scheinen. Und während ich diese letzten Sätze schreibe, spüre ich, wie Tränen der Rührung über meine Wangen rinnen – ich fliege heute, ich träume, ich weine.

Inmitten der musikalischen Pracht von Puccinis "Turandot" dürfen die Beiträge von Nebenrollen nicht unterschätzt werden. Sie fügen dem Werk eine lebendige Textur und eine Vielfalt an Farben hinzu, die essentiell für die Ganzheitlichkeit der Aufführung sind. Ping, gesungen von Nikola Diskić, Pang, dargeboten von Christopher Diffey, und Pong, verkörpert von Rafael Helbig-Kostka, liefern mit ihren charakteristischen Tenor- und Baritonstimmen nicht nur komische Entlastung, sondern auch tiefgründige Momente des Nachdenkens und der Melancholie. Ihre Ensemblearbeit ist tadellos; sie balancieren sorgfältig das Ensemble-Spiel mit individuellem Glanz, indem sie mit einer stimmlichen Präzision und Bühnenpräsenz aufwarten, die die Komplexität ihrer Figuren unterstreicht und dennoch die harmonische Einheit wahrt.

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Marcel Brunner in der Rolle des Mandarin zeigt eine eindrucksvolle stimmliche Autorität und ein Engagement, das die tragenden Pfeiler des Dramas untermauert. Seine Stimme hallt mit einem resonanten Bariton nach, der die gebührende Gravitas zu den proklamierten Dekreten hinzufügt und somit die ständige Präsenz des kaiserlichen Mandats festigt.

Schließlich Uwe Eikötter als der alte Kaiser Altoum, dessen Tenor die gebrechliche Weisheit und die Zerbrechlichkeit eines Herrschers in den Herbstjahren seines Lebens widerspiegelt. Mit einer Leistung, die gleichsam zart und durchdringend ist, zeichnet er das Bild eines Mannes, der gefangen ist zwischen der eisernen Tradition und der liebenden Sorge um seine Tochter.

Das Ende der „Turandot“, wie sie in Mannheim präsentiert wird, bleibt treu zu Puccinis ursprünglicher Vision – es ist ein Abschluss, der sich von der oft gehörten, posthum hinzugefügten Komposition Alfanos distanziert. Diese Entscheidung erweist sich als Offenbarung. In Puccinis unvollendet hinterlassenem Werk scheint das plötzliche Ende nicht abrupt, sondern vielmehr wie ein sanftes Ausatmen, das uns den Raum lässt, das bisher Erlebte zu reflektieren und in seiner ganzen Tragweite zu erfassen. Die musikalischen Themen, die sich durch die gesamte Oper ziehen, finden hier kein pompöses Crescendo, sondern eher ein resignierendes, fast melancholisches Innehalten, das dem Zuschauer einen intimen Moment der Kontemplation bietet.

Diese bewusste Entscheidung, das Finale in seiner ursprünglichen Form zu belassen, steht im Einklang mit der gesamten künstlerischen Ausrichtung des Abends – eine Feier der Musik für sich. Statt eines grandiosen, übertriebenen , orchestralen Ausklangs, der den Zuhörer mit einer Welle der Emotionen überrollen könnte, bietet der Verzicht auf Alfanos Zusatz eine stille, fast ehrfürchtige Annäherung an das Ende der Erzählung. Es ist, als ob das Orchester und die Sänger, im Bewusstsein der unvollendeten Partitur, eine zusätzliche Dimension der Aufführung offenbaren – eine, die das Publikum dazu einlädt, die Leerstellen mit eigenen Emotionen und Gedanken zu füllen. In dieser Stille, in diesem bewusst gewählten Verzicht, liegt eine Kraft, die ebenso mächtig ist wie das lauteste Fortissimo.

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Autor:

Marko Cirkovic aus Durlach

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