Stefan Wagner von der Sozialen Anlaufstelle Speyer: "Wohnungslose gehören zur Hauptrisikogruppe"
Vergessen wir auch in Zeiten von Corona die Ärmsten der Armen?
Speyer. Das Coronavirus hat die Welt derzeit fest im Griff. Während man immer wieder von Promis hört und liest, die sich mit dem Virus infiziert haben oder sich in entspannter Corona-Quarantäne in der eigenen Villa mit Privatpark befinden, sieht das Leben auf der anderen Seite der Gesellschaft ganz und gar nicht rosig aus. Wohnungslose, Rentner am Existenzminimum, Geringverdiener, Hartz4-Empfänger haben jetzt ganz besonders zu kämpfen: Tafeln schließen oder arbeiten nur im Minimalbetrieb, Verknappung führt zu Preiserhöhungen in den Supermärkten und Discountern, Vorratshaltung ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ja, sogar Pfandflaschen finden sich in den Innenstädten keine mehr in Zeiten der Ausgangsbeschränkung - und überhaupt: Wohin zur "häuslichen Isolation", wenn man kein Zuhause hat?
"Wochenblatt"-Redakteurin Heike Schwitalla sprach mit Stefan Wagner, dem Projektleiter der Sozialen Anlaufstelle Speyer (SAS), über diese Problematiken und diese Seite der Corona-Krise.
???:Die Soziale Anlaufstelle Speyer ist ja nun wegen des Coronavirus geschlossen. Wie helfen Sie und Ihre Mitstreiter dennoch all jenen Menschen, die jetzt ganz besonders auf Hilfe angewiesen sind?
Stefan Wagner: Wir haben mit Unterstützung der Wohnraumsicherung Speyer einen mobilen Lieferservice mit Notfallpaketen für wohnungs- und obdachlose Menschen eingerichtet. Dieser wird telefonisch mit den Gästen koordiniert. Die Übergabe erfolgt kontaktlos an abgesprochen Orten oder in den Notunterkünften.
???:Gibt es dabei Möglichkeiten, wie sich andere Menschen an Ihren Hilfsprojekten ganz gezielt beteiligen können – jetzt, wo viele mehr Zeit haben?
Stefan Wagner: Auch hier gilt natürlich: zu Hause bleiben, Kontakte minimieren ist das Maß der Dinge.Aufgrund der aktuellen Situation und der damit verbundenen Hygienestandards, ist eine aktive Unterstützung derzeit nicht möglich. Schön wäre, die Informationen unserer Socialmedia-Kanäle zu teilen, damit auch potenzielle Gäste Informationen und Kontaktdaten erhalten.
???:Welche besondere Bedrohung stellt Corona für Menschen ohne festen Wohnsitz ?
Stefan Wagner: Es besteht eine besonders hohe Ansteckungsgefahr für Menschen, die auf der Straße leben. Selbst einfache Schutzvorkehrungen wie beispielsweise regelmäßiges Händewaschen sind ein Problem. Wo sollen diese Menschen das tun? Hilfsangebote müssen schließen, ihr ganzes Netz ist größtenteils weggebrochen. Und damit nicht genug, viele sind durch das Leben "auf der Gasse" krank und körperlich geschwächt. Und stellen daher eine Risikogruppe dar.
???:Wo bleiben Menschen ohne Wohnsitz, wenn „zuhause bleiben“ und „häusliche Isolation“ gefordert sind?
Stefan Wagner: Ja genau, wie sollen wohnungslose Menschen zu Hause bleiben? Ihnen fehlt ein eigener Schutzraum.Die Aufforderung, zu Hause zu bleiben und Kontakte einzuschränken, geht an der Lebenswirklichkeit dieser Menschen vorbei.
Es bleiben nur die Notunterkünfte. Hier bin ich froh, dass viele unserer Gäste schweren Herzens diesen Aufruf gefolgt sind, denn Notunterkünfte sind keine Orte wo Menschen gerne sind! In Speyer sind die Menschen in eigenen Räumlichkeiten untergebracht, auch kann der Hygienestandard im Hinblick auf Corona eingehalten werden. Wobei die Räumlichkeiten in Speyer aktuell erschöpft sind.Und sicherlich ist das Speyerer Bild nicht das Bundesweite. Hier hört man immer wieder, nicht nur von unseren Gästen, von überfüllten Massen- und Gemeinschaftsunterkünften.
???: Soforthilfen für Unternehmen und Freiberufler, finanzielle Erleichterungen für Familien - helfen der Staat, Land oder Kommune Menschen ohne Wohnsitz jetzt mehr, schneller und anders als in den Zeiten vor Corona?
Stefan Wagner: In Speyer hat mit Stefanie Seiler an der Stadtspitze ein Umdenken stattgefunden. Gerade mit unserem Gemeinschaftsprojekt der SAS wird gezeigt, dass man neue Wege gehen will.Auch der gemeinsame Not-Lieferservice mit der Stadt zeigt, dass auch in der Corona-Krise diese Menschen in Speyer nicht vergessen sind. Im Hinblick auf die "große" Politik kann man das leider nicht sagen. Diese Menschen sind auch in der Krise vergessen. Es muss hier sofort ein Umdenken erfolgen. Menschenunwürdige Notunterkünfte müssen weg und neue Konzepte her. Hier können und müssen Ansätze wie "Housing first" die Zukunft sein!
???: Fürchten Sie, dass durch die Corona-Krise jetzt noch mehr Menschen in Armut geraten oder gar ihre Wohnung verlieren?
Stefan Wagner: Dieses Szenario ist leider nicht von der Hand zu weisen. Es muss ein gesellschaftliches Umdenken erfolgen. Gerechtere Löhne und akzeptable Mieten müssen der Standard sein. Es muss aber nicht nur in diesen Bereichen ein gesellschaftliches Umdenken erfolgen.
???: Was können wir alle jetzt tun, um in dieser Zeit der Krise zu helfen?
Stefan Wagner: Wieso nur in der Krise helfen? Auch das zeigt das Dilemma dieser Menschen. Es braucht immer einen Anstoß wie diese Krise oder auch das alljährliche Weihnachtsfest, dass diese Menschen mal wieder im Fokus sind. Helfen Sie den Menschen doch bitte das ganze Jahr. Ein wertschätzender Gruß, ein Euro in den Becher, ein spendierter Kaffee, ehrenamtliche Mithilfe oder auch Spenden für Institutionen wie die unsere oder oder...! Es ist doch das ganze Jahr möglich, diese Menschen in einer Form zu unterstützen.
Aber das Wichtigste momentan ist, den behördlichen Anweisungen zu folgen und keinen blinden Aktionismus walten zu lassen.
Info:
Die SAS im Internet - hier erfahren Interessierte, wie man der SAS (auch durch Spenden) helfen kann
Die SAS bei Facebook - hier werden die aktuellen Hilfsangebote veröffentlicht
Autor:Heike Schwitalla aus Germersheim | |
Heike Schwitalla auf Facebook |
Kommentare
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.