Fortsetzung folgt 2
Am Ende die Freiheit

Deutsche Siedlungen in der südlichen Ukraine. | Foto: Willi Vogt
  • Deutsche Siedlungen in der südlichen Ukraine.
  • Foto: Willi Vogt
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Liebe Leser des Wochenblattes,

hier entsteht eine Fortsetzungsgeschichte, die dem Buch von Jakob Martens: Am Ende die Freiheit entnommen ist. Im wöchentlichen Rhythmus werden Ausschnitte aus den spannenden Lebenserinnerungen des Deutschen aus der Ukraine zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiedergegeben. Das Buch ist im Buchhandel (z. B. bei Thalia) erhältlich.

Der Autor lebte in einer deutschen Bauernsiedlung im damaligen Regierungsbezirk Dnepropetrowsk (Ukrainisch Dnipro). Diese Folge berichtet über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges aus der Perspektive der Deutschen Siedler in der Ukraine.

Jahrbücher zu Krieg und Revolution

1914 – Dunkle Wolken am politischen Himmel

Fortsetzung 2
Von nun an wird auch für mich das frühe Aufstehen wieder zur Regel, da es auf der vielfältigen Wirtschaft** viel Arbeit gibt. Wir stehen kurz vor der Ernte. Weil unser alter Garbenbinder nach zehnjährigem Einsatz immer öfters streikt, hat Vater einen neuen gekauft und zwar einen Mac-Cormick, mit dessen Tech- nik wir schon mehr oder weniger vertraut sind. Der Techniker David Löwen hat uns die Maschine zusammengebaut, so dass es jetzt während der Arbeit wohl keine nennenswerten Pannen geben wird.
Vater hat sich immer sehr für das politische Weltgeschehen interessiert. Weil sein Sehvermögen jedoch viel zu wünschen übrig
** Landwirtschaftlicher Betrieb.
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lässt, ist es von nun an meine ständige Aufgabe, ihm nach der Tagesarbeit die »Odessaer Zeitung« vorzulesen, die wir außer der »Friedensstimme« seit Jahren beziehen.
Es fällt mir nicht leicht, mich nach des Tages Müh’ und Arbeit noch eine bis eineinhalb Stunden dieser Aufgabe zu widmen. Ich tue es jedoch gern, umso mehr, als auch ich Interesse daran habe, was in der Welt vor sich geht.
Gegenwärtig ist es auf der Balkanhalbinsel sehr unruhig. Wie die Zeitungen übereinstimmend melden, werden im Süden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie große Kriegsmanöver abgehalten. Sie finden zur Empörung aller Serben in der Provinz Bosnien statt, die erst 1908 der Doppelmonarchie einverleibt wurde, obwohl sie von Slawen bewohnt ist und daher auch von Serbien beansprucht wird. Die Manöver sollen am 27. Juni abgeschlossen werden.
Wir schreiben den 28. Juni 1914. Es ist mein 17. Geburtstag. Doch nicht dieses Familienereignis ist heute wichtig. Da wir vierzehn Personen im Hause sind, wird von den häufigen Geburtstagen bei uns sowieso nicht viel Aufhebens gemacht, geschweige denn dieselben gefeiert.
Viel, viel wichtiger sind die Ereignisse, die sich auf der Balkanhalbinsel abspielen. Wie die telegrafischen Nachrichten melden, ist heute am 28. Juni 1914 in der Hauptstadt Bosniens, Sarajewo, ein Attentat auf den habsburgischen Thronerben Erzherzog Franz-Ferdinand und seine Gemahlin Sophie von Hohenberg verübt worden. Der Thronfolger wohnte einem Manöver bei und begab sich nach dessen Abschluss nach Sarajewo. Wer sind die Schuldigen? Wer hat die grausige Tat vollbracht?
Laut Nachrichtenlage sitzen die Drahtzieher des Attentats in Bel- grad, der Hauptstadt Serbiens. Sieben serbische Patrioten seien beauftragt worden, diese ruchlose Tat zu vollführen. Einem dieser sieben ist sie gelungen – obwohl er sein Leben damit verwirkt hat. Wie eine
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drohende Gewitterwolke hängt dieses Ereignis nun über der ganzen Welt. Wie werden die verbündeten Mächte der beiden Gegner Serbien und Österreich auf diese Tat reagieren?
Trotz der gewitterschwülen politischen Atmosphäre gehen wir täglich von früh bis spät unserer Arbeit nach. Wir sind am Mähen und kommen spät nach Hause. Dennoch überfliegen wir immer noch die Zeitungsnachrichten.
In der zweiten Julihälfte erhält Russland in Petersburg den Besuch der Spitzen der französischen Regierung. Ein Geschwader Kriegsschiffe bringt sie zu unseren Gestaden. Wie bereits vor einigen Wochen zum Empfang der Engländer werden auch jetzt wieder Salutschüsse zu Ehren der hohen Gäste abgefeuert. Wie immer bei solchen Gelegenheiten, wird die russische Hymne und jetzt auch die französische Marseillaise gespielt. In Schloss Peterhof, wo wir Zentralschüler uns vor Kurzem noch in den schönen Parkanlagen ergingen und die Springbrunnen bewunderten, rollen heute die prächtigen kaiserlichen Hofequipagen mit den Ehrengästen und anderen Würdenträgern zum Bankett in den Palast. Es ist wohl mehr als sicher, dass bei diesen großen Empfängen nicht nur vom schönen Frühlingswetter die Rede ist, sondern vorwiegend der bedrohliche Konflikt zwischen Serbien und Österreich und dessen mögliche Folgen zur Sprache kommt. Ein sehr ärgerlicher Misston zum Bankett ist, dass gleichzeitig in den wichtigsten Fabriken Petersburgs die Arbeiter einen Aufstand probieren und dass schon mehrfach Zusammenstöße mit der Polizei stattgefunden haben.
Die französische Delegation hat Russland bereits wieder verlassen, um anschließend auch Schweden und Dänemark noch einen Besuch abzustatten. Kaum sind die hohen Gäste indes in Schweden auf einem Empfang, als sie bereits Telegramme erhalten, die sie dringend nach Hause beordern. Ohne das Ende des Dinners abzuwarten, eilen sie zu ihren wartenden Schiffen und mit Volldampf geht es, ohne wie geplant
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in Dänemark Station zu machen, nach Hause.
Eine sehr rege diplomatische Tätigkeit scheint sich zu entfalten.
Am Abend des 23.7.1914 hat Österreich-Ungarn Serbien ein Ultimatum überreicht. Ein sehr gewagter und gefährlicher Schritt. Nur Deutschland, das Österreich voll und ganz unterstützt, steht dazu. Die Ereignisse überstürzen sich nun mit rasender Geschwindigkeit. Am 26.7.1914 wird bereits über die Städte Petersburg und Moskau der Ausnahmezustand verhängt. Die Lage ist bitter ernst. Die letzten Julitage entscheiden über Krieg und Frieden in der Welt.
Zar Nikolaus von Russland und der deutsche Kaiser Wilhelm II. wechseln Telegramme, deren Inhalte vor Friedensliebe triefen. Sie waschen ihre Hände in Unschuld und ermahnen sich gegenseitig zum Nachgeben. Am Abend des 28. Juli hat die Österreichisch-Ungarische Regierung die allgemeine Mobilmachung im Land angeordnet, um schon am nächsten Tag mit der Beschießung Belgrads zu beginnen. Trotz aller Friedensbeteuerungen von allen Seiten, wird am 31. Juli im Morgengrauen die allgemeine Mobilmachung der russischen Ar- mee angeordnet. Auch Deutschland mobilisiert bereits. Im russischen Ministerium des Äußeren werden die Verhandlungen wegen der gespannten Lage ununterbrochen fortgesetzt, und auch die beiden Kaiser suchen auf telegrafischem Wege noch immer einen Ausweg. Sie rufen jeweils Gott zum Zeugen für die Rechtmäßigkeit der eigenen Position an.
Die Würfel sind aber bereits gefallen! Am 1. August 1914 erklärt Deutschland Russland den Krieg. Begründung: die russische Mobil- machung. Beide Seiten berufen sich auf himmlische Gerechtigkeit und meinen für ihre Unabhängigkeit und die Ehre des Vaterlandes zu kämpfen.
Und die Millionen kämpfender Soldaten auf beiden Seiten, die ohne eigene Schuld ins Grab sinken müssen?!
Wer ist im Recht? Wer trägt die Schuld? Bei der Übergabe der Kriegserklärung in Petersburg bricht der deutsche Gesandte in Tränen aus und beteuert, dies habe er nicht gewollt. Er ist ein gebrochener Mann. Doch das Rad der Geschichte dreht sich weiter.
In dieser schicksalsschweren Stunde erlässt der russische Kaiser ein Manifest an sein Volk. Der Hofprediger muss es verlesen. Die Kriegs- begeisterung in den Städten scheint groß zu sein. Wie lange wird sie
anhalten?
Noch ein bitterer Wermutstropfen wird dem russischen Volk verabreicht: Gleichzeitig mit der Mobilmachung wird schlagartig der Ausschank von alkoholischen Getränken streng verboten. Mit kinematografischer Schnelligkeit erfolgen in den nächsten Tagen die Mobilmachungen und Kriegserklärungen der europäischen Staaten untereinander, bis sich schließlich im Verlauf des Krieges 28 Nationen im Kriegszustand befinden.

Obwohl die Erntearbeiten keinen Aufschub dulden, erhalten wir im Dorfamt Befehl, uns mit allen Pferden und guten Wagen zur Musterung im nahegelegenen Russendorf einzufinden. Ein Wagentreck mit hunderten von Pferden bewegt sich am besagten Tag dorthin. Auf dem großen Marktplatz herrscht ein reges Treiben. Ein mit uns befreundeter Veterinär und einige Offiziere bestimmen die tauglichen Pferde sowohl für die Kavallerie als auch die Trosspferde. Ununterbrochenes Pferdegewieher und Kommandorufe sind die Begleitmusik dieser Musterung.
Um vier Pferde ärmer kehren wir nach vielen Stunden des Wartens nach Hause zurück. Wohl werden die gemusterten Pferde bezahlt, doch steht der Preis in keinem Verhältnis zum tatsächlichen Wert. Besonders schmerzlich ist, dass sie uns zwei sehr schöne, wertvolle braune Stuten genommen haben, für die wir vor etlichen Monaten auf einer Pferdeausstellung eine große silberne Medaille und ein Belobigungsschreiben erhielten. Unsere Vaterlandsliebe wird hiermit bereits auf eine harte Probe gestellt.
Und doch: Während auf manchen Bauernhöfen bereits Jungmannschaften einberufen werden, sind Bruder Peter und ich als
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Minderjährige davon noch befreit.
Als wir eines Abends vom Feld heimkehren, ist Besuch da.
Mein Onkel Jacob Lemke ist aus einem 45 Kilometer entfernten Russendorf, wo er eine Mühle besitzt, herübergekommen und weiß allerhand Neues zu berichten.
Es geht um Ereignisse, die in keiner Zeitung vermerkt sind, sondern nur mündlich unter vorgehaltener Hand weitergegeben werden. Unter anderem erfahren wir, dass bei dem Ort Mlawa unsere Kavallerie die Grenze überschritten hat und bei einem Zusammenstoß mit dem Feind 600 Tote gezählt wurden. Dies sind somit die ersten Akkorde des Großen Vaterländischen Krieges. Die Hoffnung Deutschlands, dass England neutral bleiben werde, bewahrheitet sich nicht. Am 4. August 1914 erklärt auch England Deutschland den Krieg.

Anfang dieses Monats haben wir alles gemäht. Nachdem Regen gefallen ist, sind wir beim Schwarzbrache Pflügen. Der heutige Tag verspricht ein besonders interessanter zu werden. Es soll um die Vesperzeit eine totale Sonnenfinsternis geben. Solch ein Ereignis gibt viel Gesprächsstoff. Wohl ein halbes Dutzend kleiner Glasstücke werden in der Frühe beräuchert, um als Augenschutz gegen die Sonnenstrahlen zu dienen. Der Tag dünkt uns unendlich lang. Mittagszeit ist bereits vorüber, doch Stunden sind noch zu überstehen, bis der besondere Augenblick kommt. Oder kommt er doch nicht? Sollten die Astronomen eine Fehlkalkulation gemacht haben und sollte es somit keine Finsternis geben? Wohl noch nie haben wir so oft und intensiv zur Sonne geschielt, um ein Zeichen der Veränderung zu bemerken. Alles ist indes vergebens, nur dass uns die Augen vom grellen Glanz der Sonne tränen und schmerzen. Die Sonne neigt sich bereits dem Westen zu, wir legen wie immer eine Vesperpause ein und beobachten aufmerksam den Himmel.
Ganz im Norden, kaum über dem Horizont sichtbar, bemerken wir ganz leichte helle Wolken, sonst ist der Himmel wolkenlos blau. Die Pferde haben längst die Krippe leergefressen. Es ist höchste Zeit einzuspannen und weiterzumachen. Doch zur Feier des Tages verharren wir im Nichtstun. Endlich scheint sich eine Veränderung zu vollziehen. Oder ist es eine Sinnestäuschung? Wir sehen, dass die Sonne allmählich an Glanz verliert. Die ganze Natur bekommt ein so komisches Aussehen. Durch die dunklen Gläser sehen wir nun auch, dass sich etwas vor die Sonne schiebt und sie immer mehr verdeckt. Bald ist sie nur noch eine Sichel und auch diese wird immer dünner. Ob die Pferde scheuen werden? Gelassen nehmen sie es indes hin, als hätten wir alle Tage dieses Naturwunder. Am Horizont, wo erst winzige leichte Wölkchen hingen, ballen sich nun dunkle, drohende Wolken zusammen. Ein schöner Anblick.
Sehr langsam kommt die Sonne wieder zum Vorschein und erhellt die Umgebung. Auch die Wolken am Himmel verblassen nach und nach und nehmen ihr früheres Aussehen an. Noch tagelang dient dieses Naturereignis als beliebter Gesprächsstoff.

Weitere Informationen unter
http://www.kliewer-verlag.de/
Mail: info@kliewer-verlag.de
0631 5 34 96 87
https://www.youtube.com/watch?v=X-gmq8r-x4c&t=2s

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Autor:

Berthold Kliewer aus Kaiserslautern

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