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Mit dem Nachtzug durch Indien
Reise. Eintauchen ins Land: Das muss man auch bewusst wollen – wie bei einer Fahrt mit dem Nachtzug in Indien. Zum Beispiel von Mumbai nach Udaipur, der erlebenswerten Stadt in Rajasthan im Nordwesten des Landes. Rund 15 Stunden dauert die etwa 1.000 Kilometer lange Fahrt: Um 23.25 Uhr soll der „Superfast Express“ in einem kleinen Bahnhof in der Mega-Metropole Mumbai starten – und die Ansage des Guides ist deutlich: „Bitte früh dort sein!“
Im Umfeld des Bandra Terminus ist 90 Minuten vor Abfahrt nichts von „Bollywood & Co.“ zu spüren, dafür geschäftiges Treiben in der Dunkelheit bei noch über 30 Grad mitten in der Nacht! Gefeilsche von den Kofferträgern, die einem für ihren „best price“ fast den Koffer aus der Hand reißen, doch das Ding kann man ja auch selber bewegen – und plötzlich purzeln die Preise im Sekundentakt: Von völlig überteuerten 1.500 Rupien (18 €) für diese Dienstleistung auf 1.000, 500, 300, 200 … Nein, der Koffer hat Rollen, den kann man auch selber in den Bahnhof schieben.
Zum Glück wechseln im Bahnhof die Anzeigen von der lokalen Sprache immer wieder auf Englisch, so dass man die Infos auf dem Display auch lesen kann. Abfahrtszeit und Zugnummer stimmen, die Plattform wird angezeigt, noch etwas Verpflegung besorgt für die Nacht – und dann zur Plattform, an dem der Zug schon steht. Es ist ein extrem langer Zug, den man entlang gehen muss, um „sein“ Abteil zu finden. Gebucht ist ein „Bett“ in der ersten Klasse mit Klimaanlage (Preis: rund 3.500 Rupien, also etwa 40 Euro).
Na typisch: Fast ganz am Ende des Zugs findet sich der Wagen, die Türen sind noch verschlossen, doch andere Reisegäste sitzen schon in Gruppen rum, auch vor den nicht-reservierten Abteilen, am Gleis nebenan wird der Zug beladen, Polizei ist vor Ort, Verkäufer mischen sich mit ihren Produkten unter die Menge, Lastenträger balancieren Waren auf dem Kopf. Hier ist es offensichtlich nicht mitten in der Nacht, hier ist Alltag! Stimmengewirr. Langsam werden es immer mehr Menschen auf dem Bahnsteig, dazwischen schieben sich Kofferträger durch die Menge.
Der Zug tutet, die Türen sind 40 Minuten vor Abfahrt freigegeben, die Menschen bewegen sich in die reservierten Abteile, in die nicht reservierten Abteile stürmen die Menschen, drängeln. Hier ist es ein Zweier-Abteil mit Stockbett, zwar etwas in die Jahre gekommen, aber mit abschließbarer Tür und die Klimaanlage läuft, recht kalt, ordentlicher Eindruck, Fenster aber nicht zu öffnen, das Servicepersonal bringt kurz danach saubere Leintücher, die schon Falten haben, Kopfkissen und eine Decke. Kurzer Gang zur Toilette, die indischem Standard entspricht (einmal Latrine, einmal mit Schüssel) – und zu Beginn der Fahrt noch „sauber“ ist. Wer in Frankreich auf einem Campingplatz war, kennt das - nur ist es hier unterwegs dann deutlich wackliger. Aber es gibt auch einen Schlauch zum saubermachen. Trotzdem: Man möchte sich nicht vorstellen, wie es nach 10 Stunden ausschaut!
Der Schaffner kommt, zumindest muss es ein Schaffner sein; er trägt zwar keine Uniform, schaut aber wichtig - und hat ein digitales Lesegerät dabei. Das Zugticket wird kontrolliert, passt: Man richtet sich ein, bezieht die Pritsche (hart), breitet die Decke aus, der Kontakt zu den Mitfahrern in den anderen Abteilen des Wagens ist durch die Sprache etwas eingeschränkt, aber man will ja auch schnell einschlafen - so mitten in der Nacht.
Nächstes tuten, der Zug ruckelt, pünktliche Abfahrt. Das ist man gar nicht so gewöhnt! Man schaut gebannt aus dem Fenster, wie Mumbai an einem vorbeizieht; Häuser, Menschen, viele Menschen (auch in der Nacht), noch mehr Menschen, teilweise direkt an der Strecke – aber auch viel Müll, der fast durchgängig neben den Gleisen liegt. So langsam holt einen die Müdigkeit ein, auf dem Gang ist zwar noch Trubel, Kinder rennen, Erwachsene sprechen hörbar laut im Nebenabteil, doch das Ruckeln des Wagens trägt zum Einschlafen bei.
Wach geworden um 3 Uhr: Die Klimaanlage läuft auf Hochbetrieb (lässt sich leider nicht regulieren), das Abteil ist mittlerweile ein echter Kühlschrank – und auf dem Gang ist immer noch Bewegung! Noch eine Jacke aus dem Koffer geholt, zur Toilette (noch in passablem Zustand), eingewickelt in Jacken und Decke, weiterschlafen.
Um kurz nach 7 geht die Sonne auf – und man betrachtet die Landschaft, die vorbeizieht, ist gespannt auf jedes Dorf, auf jeden Tempel entlang der Strecke, auf jeden Ort, der auftaucht. Erstaunlich: Noch immer (oder schon wieder?) ist Bewegung auf dem Gang. Ansagen vom Zugpersonal gibt es keine, könnte aber auch am Lautsprecher liegen, denn egal, wie man den Regler dreht, es kommt kein Ton. Dafür war ein Reinigungstrupp im Wagen – hat sich um die Toiletten gekümmert.
Aus dem „Superfast Express“ ist in der Nacht wohl ein „Express“ geworden, der an vielen Bahnhöfen und noch mehr Flecken hält. Wenn er langsamer fährt, springen Menschen einfach auch auf, denn die Türen des Zugs sind offen. Gespräche in den Abteilen halten an, Kinder springen durch den Gang. Kein Schaffner weit und breit.
Das Setting verändert sich, die Landschaft in Rajasthan ist mal grüner, mal brauner; Orte, Felder, Hütten, Straßen, Tempel, spielende Kinder, Tiere – das Landleben eben, denn größere Orte sind nicht dabei, aber alles unter einer Million Einwohner ist in Indien gewissermaßen eh eine "small city", eine Kleinstadt. Eines ist aber geblieben: Der Müll entlang der Strecke!
Immer wieder geht jemand durch den Gang, ruft in indischem Englisch „Bestellung“, „Kaffee“, „Thali“ oder „Pizza“. Wir lassen uns aufklären: Die Bestellung wird telefonisch durchgegeben, kommt an der nächsten Haltestelle dann direkt vom Bahnsteig an den Sitzplatz - und die Fahrt geht weiter. Kein schlechter Service, doch der Müll, die leere Verpackung, fliegt Minuten später oft am Fenster vorbei, mit anderen Worten: wird sichtbar in die Landschaft entsorgt!
Gespräche mit anderen Reisenden sind etwas schwierig, denn viele sprechen nur wenig Englisch - und auf keine andere der rund 200 Sprachen des Landes können wir uns einigen. Also bleibt es bei englischen Begriffen, Handbewegungen und lachenden Augen.
Erstaunlich und erfreulich: 10 Minuten vor der angegebenen Uhrzeit um 14.55 Uhr fährt der Zug in den Endbahnhof Udaipur ein, die Masse der Menschen verlässt den Zug und springt auf den Bahnsteig, da rollen die Wagen noch, denn die Ausgänge im Zug sind immer noch offen. Ein besonderes Erlebnis endet, aber die Toilette möchte ich nun nicht mehr benutzen – trotz Zwischenreinigung vor gut 7 Stunden. Man riecht sie – aber das kann man in Europa ja auch erleben. Fazit: Unterm Strich wurden die Erwartungen an die Reise aber übertroffen – und es ist auf alle Fälle eine spannende Alternative zu einem Inlandsflug. (© www.jowapress.de)
Reise-Tipp: Schlafwagen in der ersten Klasse mit Klimaanlage wählen (Jacke wegen der Klimaanlage dabeihaben), die passende Abteilgröße (mit Hilfe einer Reiseagentur, weil oft eine indische Mobilnummer verlangt wird) buchen, wenn man mit Fremden im Abteil ist, muss man sich arrangieren (die Betten haben feste Buchungsnummern), unter Umständen wenige Toilettenbesuche auf einer längeren Strecke einplanen, abgepacktes Wasser mitnehmen. Infos unter www.irctc.co.in
Autor:Jo Wagner |
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