Stolpersteine für Speyer
Blindstein für Eduard Adler, der unter Zwang in die Waffen-SS eintrat
Speyer. Zum fünften Mal verlegt die Speyerer Initiative am Montag, 12. September, Stolpersteine für Opfer der NS-Diktatur. Dieses Jahr wird der Initiator der Aktion, Künstler Gunter Demnig, wieder dabei sein. Die Mitglieder der Initiative "Stolpersteine für Speyer" - Cornelia Benz, Sandra Böhm, Katrin Hopstock, Jutta Hornung, Ingrid Kolbinger und Kerstin Scholl - haben wieder detaillierte Biografien Speyerer Bürgerinnen und Bürger recherchiert, die vom Nazi-Regime verfolgt wurden.
Schülerinnen uns Schüler der Burgfeld-Realschule Plus, des Edith-Stein-Gymnasiums und des Gymnasiums am Kaiserdom begleiten die Verlegung der Stolpersteine und verlesen die Biografien. Die Verlegung beginnt gegen 13.30 Uhr vor dem Haus in der Maximilianstraße 31.
Dort werden für gleich zwei Familien Steine verlegt: für die Familien Hirsch und Marx. Die Kaufmanns-Familie Hirsch, die das Haus Anfang 1906 kauft, betreibt hier zunächst das "Café Zentral", bevor sie um 1913 ein Fachgeschäft für Herren- und Knabenbekleidung einrichtet. Sophie und Hermann Hirsch haben vier Kinder; der jüngste Sohn - Otto - übernimmt 1926 nach dem Tod des Vaters das Geschäft. Er kann am 15. September 1936 gemeinsam mit seiner Frau Lilly und seinen beiden Töchtern von Speyer nach Los Angeles fliehen. Sophie Hirsch war bereits anderthalb Jahre zuvor nach Los Angeles emigriert. Stolpersteine sollen an dieser Stelle an Sophie Hirsch, geborene Durlacher, das Ehepaar Otto und Lilly Hirsch, geborene Kaufmann, und deren Töchter Marliese und Eveline erinnern.
Der letzte Lehrer der jüdischen Gemeinde
Im Haus der Witwe Hirsch wohnt nach 1933 auch Siegmund Marx, ein Lehrer aus Bödigheim, mit seiner Frau Bertha und seinen beiden Söhnen Julius und Ernst. 1934 wird Siegmund Marx Mitglied des Synagogenrats. Der letzte Lehrer der jüdischen Gemeinde ist neben Reinhold Herz 1937 Verfasser geschichtlicher Artikel zur Speyerer Gemeinde. Nach der Pogromnacht im November 1938 wird Siegmund Marx für Wochen nach Dachau verschleppt - gemeinsam mit dem 13-jährigen Ernst. Zuvor hatten die Nazis den Vater zur Wahl zwischen seinen beiden Söhnen gezwungen. Julius kann noch im Dezember in die Schweiz emigrieren. Ernst wird von den Eltern in einem Kindertransport nach Frankreich gebracht.
Im April 1939 muss das Ehepaar zu Familie Mühlhauser in die Schraudolphstraße 26 umziehen. Bei Kriegsbeginn werden beide als „feindliche Ausländer“ festgesetzt: Bertha in Gurs, Siegmund in einem Arbeitslager in der Gegend von Limoges. Über die Lager Les Milles und Drancy wird Siegmund Marx im September 1942 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Seine Frau überlebt Gurs, schwer gezeichnet von Schlaganfall und Gedächtnisverlust.
Ernst verpflichtet sich nach Kriegsende für zwei Jahre zur französischen Armee. In Gières bei Grenoble trifft der Sous-Lieutenant im Juni 1945 zufällig auf seine Mutter. Bis zum Ende von Ernsts Wehrdienst bleibt sie bei Julius in Grenoble. Am 6. Juni 1947 wandert die wiedervereinte Familie in die USA aus, wo Julius 1970 bei einem Autounfall stirbt. Seine Mutter stirbt 1991 im Alter von 96 Jahren. Ernest Marx wird "religious director" der jüdischen Gemeinde in Louisville, Kentucky. Im Jahr 2000 besucht er Speyer; 2007 stirbt er. Stolpersteine sollen an ihn, seinen Bruder Julius sowie die Eltern Siegmund und Bertha Marx, geborene Steinberger, erinnern.
"Brüder Schiff Kleider-Fabrik"
In der Mühlturmstraße 26 werden Stolpersteine für Wilhelm und Mathilde Schiff, geborene Feuerstein, und ihre Tochter Ilse Katz, geborene Schiff, verlegt. Das Paar zieht nach der Heirat 1911 nach Speyer, wo im Juli 1912 ihre Tochter Ilse geboren wird. Wilhelm Schiff betreibt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Jakob in der Oberen Langgasse 5a die "Brüder Schiff Kleider-Fabrik". Nach dem Tod seines Bruders ändert er den Namen in "Wilhelm Schiff Kleider-Fabrik". Das Wohnhaus wird im Januar 1939 unter Zwang an die Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft veräußert. Im August zwingt man die Familie, in das sogenannte Judenhaus in der Herdstraße 3 umzuziehen, in dem bereits zwei weitere Familien untergebracht sind. Die Wohnungseinrichtung der Familie wird am 21. Februar 1941 öffentlich versteigert. Wilhelm und Mathilde Schiff werden am 22. Oktober 1940 ins französische Lager Gurs deportiert. Wilhelm stirbt dort 1941 im Alter von 65 Jahren. Seine Frau Mathilde transportiert man im August 1942 über das Lager Drancy nach Auschwitz, wo sie am 31. August ermordet wird. Tochter Ilse gelingt im August 1940 die Emigration die USA, sie stirbt mit 91 Jahren.
In der Wormser Straße 12 lebte der Bruder von Wilhelm Schiff, Jakob, mit seiner Frau Erna Schiff, geborene Müller, sowie ihrem Sohn Hans. Das Paar zieht kurz nach der Heirat 1920 nach Speyer, wo im Dezember Sohn Hans geboren wird. Jakob stirbt am 30. Januar 1935 im Alter von 57 Jahren und wird auf dem jüdischen Friedhof in Speyer beigesetzt. Sohn Hans emigriert 1936 in die Staaten, seine Mutter folgt ihm 1938. In der Wormser Straße 23 lebte Maximilian Adler. Hier wird er am 20. Januar 1884 geboren, hier wächst er mit sieben Geschwistern auf. Er übernimmt die Textilwarenhandlung seiner Eltern und heiratet 1922 Selma Mayer.
Am 12. November 1938 wird er nach dem Brand der Synagoge mit allen männlichen erwachsenen Speyerer Juden in das Konzentrationslager nach Dachau verschleppt; erst am 16. Dezember kann er zurück kehren. Sein Haus wird noch 1938 an die Saarpfälzische Vermögensverwertungsgesellschaft veräußert. Am 22. Oktober 1940 wird das Ehepaar Adler gemeinsam mit seinem 16-jährigen Sohn Eduard und etwa 50 weiteren Speyerer Juden ins südfranzösische Gurs deportiert. Ihr Leidensweg führt Selma und Maximilian Adler über das Lager Drancy im August 1942 ins Vernichtungslager Auschwitz.
Blindstein für Eduard Adler
Eduard hatte im Lager Les Milles das Glück, im August 1942 vom Kinderhilfswerk OSE gerettet zu werden. Mit falschen französischen Papieren und rudimentären Sprachkenntnissen schlägt er sich zunächst als Holzfäller durch. Bei einer Razzia der Wehrmacht im November 1943 festgenommen, gibt er sich als flämischer Belgier aus, um sein schlechtes Französisch zu erklären, und man transportiert ihn nach Paris in die Caserne Clignancourt, wo seine belgische Tarnung auffliegt. Da gründlichere Nachforschungen zur Aufdeckung seiner wahren Identität geführt hätten, meldet er sich in der Clignancourt zusammen mit etwa 60 Franzosen "freiwillig" zur Waffen-SS. Die militärische Ausbildung erfolgt bis September 1944 im Ausbildungslager im elsässischen Sennheim.
Eine genauere Aufschlüsselung des Zeitraums zwischen der Festnahme im November 1943 und dem September 1944 war nicht zu ermitteln, trotz der im Landesarchiv Speyer vorhandenen Unterlagen und der zum Wiedergutmachungsamt Saarburg gelieferten Akten. Obwohl letztere zahlreiche ältere Originaldokumente enthalten, die wichtige Aufschlüsse geben, werden trotz aller Bemühungen nicht sämtliche Details geklärt werden können. Über Prag, wo Eduard Adler zwei Monate in einer Schreibstube Dienst tut, wird er nach Küstrin versetzt, 80 Kilometer östlich von Berlin. Am 2. Januar 1945 wird er verwundet und kommt ins Lazarett in Aue im Erzgebirge, wo er am 6. Mai 1945 kurz in amerikanische Kriegsgefangenschaft gerät.
Am 6. November 1945 kehrt er zurück nach Speyer und lebt als Mieter im Elternhaus. Enttäuschend ist für ihn das bürokratische Verhalten der Stadtverwaltung bei seinem Bemühen, elterliche Möbel zurückzuerhalten. Am 15. Oktober 1946 heiratet er die protestantische Irma Wetzel, Tochter Brigitte wird im März 1947 geboren. Eduard versucht die Textilwarenhandlung weiterzuführen, der geschäftliche Erfolg bleibt jedoch aus. Schließlich verkauft er das erst Mitte 1949 nach Restitutionsprozess an ihn zurückerstattete Anwesen im Dezember 1949 und wandert Ende 1951 mit seiner Familie zu Verwandten nach Montgomery, Alabama, aus. Ab Mitte 1952 arbeitet er in Baltimore als Bäcker; er stirbt 1987.
Ob Eduard Adler wegen seiner - erzwungenen - Zugehörigkeit zur Waffen-SS einen Stolperstein bekommen soll, sorgte für lebhafte Diskussionen. Vor einem jüdischen Ehrengericht sagt er 1947 unter Eid aus, unter Zwang in die SS eingetreten zu sein, die Gemeinde schloss ihn dennoch aus. Eine ausgewogene Beurteilung dieses wechselvollen Schicksals ist im Rückblick schwierig. Gunter Demnig schlug daher vor, für Eduard einen unbeschrifteten Stein, einen sogenannten Blindstein, zu verlegen - neben den Stolpersteinen für seine in Auschwitz ermordeten Eltern.
Im Auftrag der Gestapo zwangssterilisiert
Im diesem Jahr sind die Entfernungen zwischen den Verlegestellen relativ groß, so dass es zu zeitlichen Verzögerungen kommen kann. Wer an der Verlegung teilnehmen möchte, der sollte genügend Zeit einplanen. Von der Wormser Straße 23 geht es in den Otterstadter Weg. Dort, vor dem Haus Nummer 121, sollen zwei Stolpersteine an die Geschwister Susanna und Josef Kaiser erinnern, die beide von den Nazis zwangssterilisiert wurden.
Ihre Mutter ist bei ihren Geburten 1921 und 1922 nicht verheiratet, die Väter sind französische Besatzungssoldaten aus Madagaskar beziehungsweise Marokko. Die Hautfarbe der Geschwister wirkt sich besonders ab 1933 auf Ausbildung und Beruf aus. Josef Kaiser geht 1931 zum Zirkus, aber ein Arbeitsunfall beendet 1933 seine Artistenkarriere. Als "Nicht Arischer" ohne Lehrstelle muss er sich als Hilfsarbeiter verdingen. Damals entsteht das Siedlungsprojekt am Otterstadter Weg; Josef arbeitet am Haus seines Stiefvaters mit und zieht nach Fertigstellung mit ein. Ab Sommer 1936 arbeitet er im Autobahnbau.
Ein streng geheimer „Führerbefehl“ vom 18. April 1937 führt zu einer illegalen Geheimaktion der Gestapo gegen die „Rheinlandbastarde“: Zwangssterilisation. Wegen des drohenden Eingriffs heuert Josef auf einem Frachter an und taucht bei einem Bauern in Winden unter. Dann jedoch erkrankt Josef an Diphtherie und kommt ins Speyerer Diakonissenkrankenhaus. Seine Mutter wird vom Gesundheitsamt unter Druck gesetzt und mit Konzentrationslager bedroht, so dass sie schließlich der Sterilisation des erst 16-Jährigen zustimmt. Die Gestapo entführt Josef Kaiser bei seiner Entlassung aus dem Speyerer Krankenhaus nach Ludwigshafen, wo er am 29. Oktober 1937 zwangssterilisiert wird. Das gleiche Schicksal war seiner Schwester Susanna bereits am 5. Juni 1937 widerfahren. „Als geheilt entlassen“, verweigert man Josef eine Bescheinigung über den tatsächlichen Eingriff.
Der „Wehrunwürdige“ wird ab Mitte 1943 Fahrer bei der Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe. Im September 1944 kehrt er nach Speyer zurück, Ende1945 heiratet er Herta Grimm. Er tritt dem Athletenverein 1903 Speyer bei und feiert als Gewichtheber sportliche Erfolge. Doch Josef Kaiser leidet lebenslang an Depressionen und Unsicherheiten. An Leib und Seele geschädigt, stirbt er 1991 an Nierenversagen. Susanna Kaiser wird Arbeiterin: zunächst in der Baumwollspinnerei, dann bei der Firma Klais Eisschrankfabrik Speyer. Seit 1941 bei der Firma Siemens in Speyer, wird sie für ihre lose Bekanntschaft mit einem belgischen Kriegsgefangenen 1943 zu sieben Monaten Haft im Frauenjugendgefängnis Frankfurt-Preungesheim verurteilt. Im Juli 1945 heiratet sie den ehemaligen französischen Kriegsfangenen Marcel Médard und zieht mit ihm nach Frankreich. 1960 kehren beide nach Speyer zurück. Susanna Médard stirbt 2010.
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